Den Regler etwas höher stellen Was man von Psychopathen lernen kann
15.09.2013, 06:00 Uhr
Dem Faszinierenden an Psychopathen gab Anthony Hopkins in "Das Schweigen der Lämmer" ein Gesicht.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Ein wenig Psychopathie hilft nicht nur im Beruf, sondern kann auch das Sexualleben beflügeln. Mit dieser provokanten These will Kevin Dutton einladen, von Mördern und Schwerverbrechern zu lernen. Denn Dutton ist der Meinung, einige psychopathische Eigenschaften machen den modernen Menschen erst zu einem wirklich erfolgreichen Mitglied unserer Gesellschaft.
Was hat Hannibal Lecter mit einem erfolgreichen Hirnchirurgen gemeinsam? Wahrscheinlich mehr, als dem Hirnchirurgen lieb ist. Denn Psychopathen gelten landläufig als schwer gestörte Menschen und tatsächlich findet sich unter den Schwerverbrechern in Hochsicherheitstrakten eine erstaunlich hohe Anzahl von ihnen.
Doch ihnen gilt in "Psychopathen – Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann" nicht das besondere Augenmerk von Kevin Dutton. Der Forschungspsychologe am Calleva Research Center for Evolution am Human Science des Magdalen College der Universität Oxford geht vielmehr der Frage nach, welche eigentlich psychopathischen Eigenschaften bei aller Vorsicht den modernen Menschen zu einem erfolgreichen Mitglied unserer Gesellschaft machen können.
Denn auch viele "normale" Menschen haben einige der Eigenschaften, mit denen auf der "Psychopathy Checklist" die Einschätzung psychopathischer Charaktere erfragt wird. Wer mehr als 75 Prozent dieser Merkmale besitzt, gilt als Psychopath. Doch unter den Eigenschaften sind auch Kaltblütigkeit, Durchsetzungsstärke, Konzentrationsfähigkeit, Furchtlosigkeit, rasche Auffassungsgabe, Energie oder Charisma. Alles Charakterzüge, die auch die Erfolgreichen dieser Gesellschaft auszeichnen. Dutton entwickelt daraus die These, dass erfolgreiche Priester, Firmenbosse oder Chirurgen "funktionierende Psychopathen" sind. Denn die sozial akzeptierten Helden und Psychopathen sind einander nicht unähnlich, so der Autor. Der Flugzeugpilot, der Bombenentschärfer, der Elitesoldat, der Operateur am offenen Herzen, aber auch der Spitzenpolitiker - sie alle wären ohne innere Härte und unbedingte Handlungsbereitschaft nicht denkbar.
Positive Eigenschaften
"Psychopathen haben gewisse positive Wesenszüge", sagt Dutton. "Wenn wir es auf einer professionellen Ebene betrachten, sind Psychopathen durchsetzungsfähig. Sie schieben nichts vor sich her, konzentrieren sich auf das Positive, nehmen nichts persönlich, hadern nicht mit sich selbst, wenn die Dinge einmal schiefgehen und unter Druck handeln sie sehr überlegt." Von derartigen charakteristischen Merkmalen könne im Alltag jeder profitieren. Was landläufig als Krankheit gilt, kann dann geradezu karrierefördernd sein.
So erklärt ein Börsenhändler, der sich selbst als Psychopath bezeichnet und hohe Werte auf der Psychopathie-Skala erreicht, Dutton seine Erfolgsstrategie. Er sei zu keinem Zeitpunkt verwundbar oder emotional, bleibe unbarmherzig und ohne Reue auf die gegenwärtige Aufgabe fokussiert und lasse sich niemals von vergangenem Erfolg oder Misserfolg beeindrucken. Während manche Kollegen nach einer harten Sitzung weinend zusammenbrächen, halte er dem Druck stand. Ein erfolgreicher Anwalt wird noch deutlicher: "Tief in mir lauert ein Serienmörder", sagt er Dutton. "Aber ich halte ihn bei Laune. Mit Sex und Koks und brillanten Kreuzverhören."
Die Kehrseite dieses Erfolgsmodells ist die fehlende Fähigkeit zu Mitgefühl, Schuld oder Reue. Deshalb meint Dutton, dass zwei Punkte den entscheidenden Unterschied zwischen Verbrecher und Konzernchef ausmachen – zum einen die Intelligenz, zum anderen die Impulskontrolle. Kriminelle Psychopathen versagen vor allem bei der zweiten Eigenschaft vollkommen. Sie sind nicht in der Lage, sich selbst zu disziplinieren. Dutton beschreibt unter anderem einen Mörder, der einen Mann umbrachte, um dessen Oberhemd anziehen zu können. Er trug es noch bei seiner Festnahme.
Erfolgreiche Priester mit psychopathischen Zügen
In einer Studie, die Dutton 2011 durchführte, verband er die Frage nach psychopathischen Eigenschaften zudem mit den Berufen der Befragten. Das wenig überraschende Ergebnis war: Die meisten Psychopathen gab es bei den CEOs, dann kamen Anwälte, Verkäufer, Chirurgen, Journalisten und Polizisten. Auf Platz acht standen die Geistlichen. Das habe ihn dann doch erstaunt. "Aber Psychopathen sind einfach erfolgreicher in Organisationen mit einer klaren Hierarchie, wo sie an den Regeln drehen können und das ist zum Beispiel bei der Kirche der Fall." Das erkläre beispielweise auch, warum der Anteil der Männer unter den Psychopathen höher sei als der der Frauen. Sie seien meist empathischer und reflektierter. Frauen machen sich mehr Vorwürfe, wenn Dinge schiefgehen. Das alles sind Eigenschaften, die Psychopathen völlig abgehen.
Dutton rät Karrierewilligen und Möchtegern-Erfolgreichen, den psychopathischen Regler in sich etwas höher einzustellen. Denn "aufgrund irgendeines darwinistischen Narrenstreichs" besitzen Psychopathen genau die Persönlichkeitsmerkmale, "für die viele von uns alles geben würden", sagt Dutton. Das könne beispielsweise in Gehaltsverhandlungen sehr nützlich sein.
Für viele sei das eine schwierige Situation, die vor allem negative Assoziationen wachrufe. Ein Psychopath hingegen würde sich nicht auf das Negative, sondern auf die gewünschte Belohnung fokussieren, auch im Fall eines Misserfolges unbeeindruckt bleiben und irgendwann den nächsten Anlauf unternehmen.
Einblick in spannende Forschung
Dutton wirft spannende Fragen auf, beispielsweise die, warum sich Psychopathen, denen jede Gefühlregung fremd ist, trotzdem perfekt in ihr Gegenüber einfühlen können. Er enthüllt, mit welchen Experimenten Forscher den Unterschieden zwischen normalen Menschen, funktionierenden Psychopathen und Schwerverbrechern auf die Spur kommen. Er geht aber auch in die Hochsicherheitsgefängnisse und trifft auf jene, die ihren psychopathischen Regler längst nicht mehr selbst einstellen können. Schließlich lässt er sein Gehirn gar mit elektrischen Tiefenströmen behandeln, um sich für etwa 15 Minuten wie ein Psychopath zu fühlen. Als er in diesem Zustand noch einmal die Bilder von Blut, Verstümmelung und Tod ansieht, die ihn in seiner normalen Verfassung ziemlich aus der Bahn geworfen hatten, fällt es ihm schwer, "ein Lächeln zu unterdrücken".
Aus all seinen Erkenntnissen extrahiert Dutton sieben Siegermerkmale, die mit "Maßen und der gebotenen Sorgfalt und Aufmerksamkeit" genutzt, dabei helfen können, "genau das zu bekommen, was wir wollen". Dann könnten sich Opfer in Sieger verwandeln, ohne dabei Schurken zu werden – zugegebenermaßen eine verlockende Vorstellung. Doch selbst Dutton hatte am Ende seines Buches das Gefühl, auf der psychopathischen Skala etwas höher gerutscht zu sein, und das las sich nicht so, als wenn er das als Fortschritt empfand. Insofern ist eine psychopathischer werdende Gesellschaft dann doch eine sehr beunruhigende Vision.
Quelle: ntv.de