Laut, bildgewaltig und bedrückend "Die Einsamkeit der Primzahlen"
11.08.2011, 08:51 Uhr
So nah und doch so fern: Alice (Alba Rohrwacher) und Mattia (Luca Marinelli).
Zwei junge Menschen, durch tragische Ereignisse traumatisiert, fühlen sich einander verbunden, können aber nicht zueinanderfinden. Mit dem Roman "Die Einsamkeit der Primzahlen" zog Paolo Giordano Millionen Leser in den Bann und erhielt den wichtigsten italienischen Literaturpreis - zu Recht. Jetzt hat sich Costanzo der Herausforderung gestellt, den Bestseller zu verfilmen.
Was sein Geheimnis ist? Darüber spricht Mattia nicht. Als Antwort rammt er sich im Biologieunterricht ein Messer in die Hand. Auch aus Alice werden ihre Mitschüler nicht schlau. Das verschlossene Mädchen muss wegen seines "Hinkebeins" Hänseleien und Demütigungen einstecken – und kotzt sich auf der Schultoilette heimlich die Seele aus dem Leib.

Bereits als Teenager spüren Alice (Arianna Nastro) und Mattia (Vittorio Lomartire) das magische Band zwischen ihnen.
Beide sind sie Außenseiter. Und beide fühlen sich magisch zueinander hingezogen. In der Einsamkeit des anderen scheinen sie die eigene Verlorenheit zu erkennen. Und instinktiv wissen sie, dass sie etwas Gemeinsames verbindet: Es war nur ein einziger Tag in ihrer Kindheit, der ihr weiteres Leben auf dramatische Art beeinflussen sollte.
Die kleine Alice wird von ihrem ehrgeizigen Vater zum ungeliebten Skiunterricht gedrängt. Auch widrige Wetterbedingungen können seine Ambition, aus seiner Tochter eine exzellente Sportlerin zu machen, nicht stoppen. Mit gravierenden Folgen. Alice kommt bei starkem Nebel von der Piste ab und verunglückt. Zurück bleiben ein steifes Bein und ein tiefes Misstrauen gegenüber anderen Menschen.
Wie Primzahlenzwillinge
Mattia hingegen kümmert sich rührend um seine geistig behinderte Zwillingsschwester Michela. Die Mutter aber bürdet dem Jungen mehr Verantwortung für seine Schwester auf, als er tragen kann. Nur ein einziges Mal lässt er sie auf einer Parkbank zurück, weil er alleine auf das Kostümfest eines Schulkameraden gehen will. Als er zurückkommt, kann er Michela nicht wiederfinden. Die Schuldgefühle, für das Verschwinden seiner Schwester verantwortlich zu sein, lassen Mattia sein ganzes Leben lang nicht mehr los.
Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit suchen Alice und Mattia die Nähe des anderen. Auch als sie schon als Fotografin die Realität durch die schützende Linse der Kamera betrachtet und er sich in die sichere, geordnete Welt der Mathematik geflüchtet hat, bleibt die unausgesprochene Anziehung zwischen ihnen bestehen. Aber irgendetwas scheint sie daran zu hindern, sich wirklich nah zu kommen. Sie sind wie die 11 und die 13, Primzahlenzwillinge, die sich nie berühren können, sondern immer durch eine weitere Zahl voneinander getrennt werden.
Risiko Bestsellerverfilmung
Der Film "Die Einsamkeit der Primzahlen" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Paolo Giordano. Der 1982 geborene Buchautor und promovierte Teilchenphysiker wurde für seinen Debütroman als bisher jüngster Autor mit dem Premio Strega, der wichtigsten literarischen Auszeichnung Italiens, geehrt – absolut zu Recht. Der Roman, eine der großen Entdeckungen des Jahres 2008, avancierte in Italien zum meistverkauften Buch. Ein Jahr später kam der Roman nach Deutschland und hat sich seitdem einen festen Platz in den Bestsellerregalen der Buchhandlungen erobert. Die Verfilmung der tragischen Geschichte um Alice und Mattia war also nur noch eine Frage der Zeit. Und obwohl Literaturverfilmungen, noch dazu von einem solchen Erfolgsroman, immer ein Risiko bergen, hat sich der italienische Filmemacher Saverio Costanzo der Herausforderung gestellt – und ist gescheitert, teilweise zumindest.
Dass ein Film andere Akzente setzen muss als ein Roman, liegt auf der Hand. So wurde für die Kinoadaption die lineare Erzählweise aufgebrochen. Das Drehbuch, an dem Giordano selbst beteiligt war, lässt den Film auf drei verschiedenen Zeitschienen mit jeweils unterschiedlichen Darstellern (Kindheit, Jugend, Erwachsenalter) hin und her springen und legt dabei den Fokus auf die Veränderung der Körper: auf Alices Hinken, ihre Magersucht; auf Mattias Narben durch die Selbstverletzungen, seine starke Gewichtszunahme.
Schade ist, dass die im Buch so sensibel entwickelte Charakterisierung der Figuren im Film zu einem Doppelporträt stilisierter, fast freakiger Sonderlingen verkommt, die den Zuschauer in ihrer Weltferne emotional nicht erreichen können. Das mag vielleicht daran liegen, dass das Filmteam tief in die Trickkiste der bedeutungsschwangeren Effekte greift. Oftmals zu tief. Es regnet, nein: schüttet, dichter Nebel wabert immer wieder über die Leinwand, dröhnende Musik drückt die Zuschauer in die Kinosessel. Bei manchen fast surrealen Einstellungen lässt auf verstörend unangebrachte Weise der Mysteryfilm grüßen und man stellt sich unwillkürlich die Frage: Hat sich der Regisseur im Genre geirrt?
Märchenhafte Bilder
Andere Bilder wiederum verzaubern den Zuschauer geradezu, sind wunderschön, märchenhaft zart und erschreckend beeindruckend – so lange, bis Costanzo in die Kitsch-Falle tappt: So wird für den begriffsstutzigsten Zuschauer – Achtung, Schicksal schlägt zu! – die erste Begegnung zwischen Alice und Mattia natürlich in tranceartiger Zeitlupe gedreht.
Mit der Stärke des Buchs, die anrührenden Lebenswege der beiden Figuren unprätentiös und einfühlsam zu erzählen, kann der Film letztendlich nicht mithalten. Leider. Denn die Schauspieler sind perfekt gecastet. Allen voran Alba Rohrwacher in der Rolle der erwachsenen Alice, die seit diesem Film wohl nicht nur für Costanzo "keine Schauspielerin, sondern eine Künstlerin" sein wird. Ihre reduzierte Art zu spielen ist absolut überzeugend. Am Ende des Films wirkt sie mit beängstigenden zehn Kilo weniger auf den Rippen fast durchscheinend. Auch Luca Marinelli als erwachsener Mattia legt ein beachtliches Kinodebüt hin. Und natürlich ist da die großartige Isabella Rossellini, die auch in ihren wenigen kurzen Auftritten als Mattias Mutter Adele der Rolle ein ganz eigenes Profil zu geben weiß.
Trotz teilweise nervend lauter Musik und einiger sentimentaler Fehlgriffe ist mit "Die Einsamkeit der Primzahlen" ein bildgewaltiger, bedrückend eindringlicher Film entstanden. Ob er allerdings den gleichen Erfolg einfahren kann wie das gefeierte Buch, ist fraglich.
Der Film läuft ab dem 11. August im Kino.
Quelle: ntv.de