Politik

Szenario für NATO-Russland-Krieg "Uns bleiben zwei bis drei Jahre, um gegen Putin Abschreckung aufzubauen"

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In der Region Saporischschja stationierte russische Soldaten verfolgen einen Fernsehauftritt von Präsident Wladimir Putin.

In der Region Saporischschja stationierte russische Soldaten verfolgen einen Fernsehauftritt von Präsident Wladimir Putin.

(Foto: IMAGO/Alexander Polegenko)

Russland könnte viel schneller als vom Westen gedacht genug Waffen produzieren, um sich einen Angriff auf die NATO zuzutrauen. Die hat zu wenig im Blick, wie Russland tickt, sagt Sicherheitsexperte Fabian Hoffmann im Gespräch mit ntv.de. Er forscht an der Universität Oslo unter anderem zu Russlands militärischen Strategien.

ntv.de: "Wir haben jetzt ungefähr fünf bis acht Jahre, in denen wir aufholen müssen", sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius mit Blick auf die Bedrohung durch Russland und wie Deutschland sich dagegen wappnen kann. Jetzt kommen Sie als Wissenschaftler und sagen: Nee, mehr so zwei bis drei Jahre. Demnach pressiert es enorm. Wodurch dieser Zeitdruck?

Fabian Hoffmann: Für mein Empfinden fehlt in der Debatte, dass auch die russische Militärstrategie mit einbezogen wird. Wenn wir uns die anschauen, zielt sie nämlich nicht darauf ab, zwangsläufig ein konventionelles Gleichgewicht mit der NATO herzustellen. Sondern es geht dem Kreml viel mehr darum, durch asymmetrische Kriegsführung Vorteile zu erlangen.

Russland sieht demnach selbst gar nicht die Notwendigkeit, sich so weit aufzurüsten, dass es der NATO in einem längeren, intensiven Krieg die Stirn bieten könnte?

Der Kreml weiß ganz genau: Seinen eigenen Truppen fehlt die Mannstärke, fehlt die Ausrüstung, um großflächig NATO-Territorium zu besetzen. Da ist die NATO einfach grundsätzlich überlegen, selbst wenn man nicht die militärische Stärke der USA mit einrechnet. Wir würden in einem Krieg also wahrscheinlich nicht sehen, dass Russland versucht, die NATO territorial von Tallinn bis nach Lissabon zu bekämpfen. Stattdessen haben sich die Russen schon über mehrere Jahrzehnte Gedanken gemacht, wie sie die NATO besiegen können, ohne dieses Gleichgewicht konventioneller Kräfte herzustellen.

Mit welchem Ergebnis?

Da spielt Kriegsführung im Cyberspace eine wichtige Rolle, auch Desinformation. Wenn es im Kriegsfall Russland gar nicht darum geht, die NATO im Kampf niederzuringen, wäre eine Strategie, psychologischen Druck auf NATO-Staaten aufzubauen. Entscheidungsträger dazu zu bewegen, Verhandlungen mit Russland einzugehen, was dazu führen könnte, dass die NATO als politische Einheit zerfällt.

Und wie könnte Russland diesen Druck aufbauen?

Ein Worst-Case-Szenario, über das russische Intellektuelle und Offizielle diskutieren, und das mir darum große Sorge bereitet, würde so aussehen: Relativ schnell nach Ausbruch von Kampfhandlungen an der NATO-Ostflanke schafft es Russland, einen gewissen Teil von NATO-Territorium zu erobern.

Wie groß?

Das müsste eben nicht sehr groß sein, nicht das ganze Baltikum zum Beispiel. Ein Gebiet, gerade groß genug, so dass die NATO die Besetzung nicht ignorieren kann - also schon etwas mehr als zwei Kilometer hinter der Grenze. Aber kein komplettes Land, das ist gar nicht notwendig. Was dann aber passieren würde: Russland würde sehr schnell seinen nuklearen Schutzschirm über dieses besetzte Territorium ausweiten. Mit dem Signal an NATO-Entscheidungsträger: "Wenn ihr versucht, dieses Gebiet zurückzuerobern, dann sind wir auch bereit, Nuklearwaffen gegen eure vorrückenden Truppen einzusetzen."

Und damit hätte man innerhalb der NATO-Staaten eine aufgeregte Debatte, wie man auf diese Drohung reagiert.

Das zum einen, zusätzlich zur Besetzung in Osteuropa könnte Russland aber auch noch Westeuropa direkt attackieren: mit tiefen Raketen- und Flugkörperangriffen gegen kritische zivile Infrastruktur. Damit signalisiert Russland, was es anrichten könnte und auch anzurichten bereit wäre, nämlich der Zivilbevölkerung tief im NATO-Hinterland unglaublichen Schaden zuzufügen.

Fabian Hoffmann forscht an der Universität Oslo zu Militärstrategie, Nuklearwaffen, Verteidigungspolitik und internationalen Beziehungen. Er studierte am King's College London und in Groningen.

Fabian Hoffmann forscht an der Universität Oslo zu Militärstrategie, Nuklearwaffen, Verteidigungspolitik und internationalen Beziehungen. Er studierte am King's College London und in Groningen.

(Foto: aesthesia photography – Katsis)

Raketenangriffe auf Kraftwerke, Kläranlagen, Wasserwerke - wären das solche Szenarien?

Solche Angriffe plus die Kampfhandlungen an der Frontlinie. Zusammen mit dem nuklearen Schatten, der über einer Konfrontation mit Russland hängen würde, könnte das einige Politiker in Deutschland und anderen NATO-Staaten psychologisch genug unter Druck setzen, damit sie zu Verhandlungen mit Russland bereit wären, um eine Lösung außerhalb des Krieges zu finden. Das würde die NATO zersetzen. Wir sprechen hier über ein Worst-Case-Szenario, wie gesagt, aber ich halte es für plausibel, wenn ich sehe, was in russischen Quellen besprochen wird. Genau so bereiten sie sich auf einen Krieg mit der NATO vor. Vor allem seit 2014 wird das offen diskutiert unter russischen Militärs, in Militärzeitschriften und anderen Quellen.

Und zu solch einer Strategie wäre Russland in zwei bis drei Jahren in der Lage?

Genau. Ich möchte auf keinen Fall voraussagen, dass wir in zwei bis drei Jahren mit Russland im Krieg sind. Darum geht es nicht. Aber ich denke, wir sollten auf ein Worst-Case-Szenario gefasst sein, das realistisch ist und der russischen Strategie entspricht. Das habe ich umrissen. Wenn wir dieses Szenario betrachten, dann bleiben uns jetzt zwei bis drei Jahre, um gegenüber Putin eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen. Das ist unser Zeitfenster für Wiederaufrüstung, damit Russland dumme Ideen dieser Art möglichst nochmal überdenkt.

Sie haben ja eben explizit auch Russlands mögliche Strategie genannt, die NATO mit Atomwaffen zu bedrohen. Im Ukrainekrieg haben westliche Experten solche Drohungen bislang als kaum glaubwürdig beurteilt. Was wäre im Konflikt mit der NATO anders?

In der russischen Militärdoktrin kann man das konventionelle Element der Streitkräfte nicht wirklich von den nuklearen Elementen trennen. Das ist stark miteinander verwoben und agiert im Kriegsfall zusammen. In einem Krieg zwischen NATO und Russland würde man sich sehr schnell mit russischen Nukleardrohungen konfrontiert sehen. Das hat Putin auch im Ukrainekrieg versucht, das stimmt, aber in einem Krieg gegen die NATO steht für ihn noch mehr auf dem Spiel. Das heißt, er wäre von vornherein bereit, auf andere Mittel zuzugreifen, die im Moment in der Ukraine einfach noch außen vor stehen, alleine schon aufgrund der deutlich größeren konventionellen Bedrohung, die von der NATO ausgeht. Zudem haben Indien und China recht schnell klar gemacht, dass sie einen Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine nicht tolerieren würden.

Das wäre bei einem Krieg Russlands gegen die NATO anders?

Im Krieg gegen die NATO hätten China und Indien vermutlich nicht mehr viel Einfluss auf Russland. Ihre Position wäre dann einfach egal. Im Ukrainekrieg muss Putin auch mit einem direkten Eingreifen der NATO oder der USA rechnen, falls er Atomwaffen einsetzen sollte. Zumindest geht man davon aus, dass das Putin so kommuniziert wurde. Das wäre nicht in seinem Interesse. Solche Bedenken spielen in einem Krieg mit der NATO natürlich keine Rolle. Der Kosten-Nutzen-Faktor, der für den Atomwaffengebrauch spricht, wäre also aller Voraussicht nach ein ganz anderer im direkten NATO-Russland-Krieg.

Wie muss sich Ihrer Ansicht nach die NATO vorbereiten, was kann Deutschland tun, um auf solch ein Worst-Case reagieren zu können?

Zunächst einmal müssen wir wieder lernen, über solche Szenarien überhaupt zu reden. Wir müssen uns damit vertraut machen, dass wir nuklear bedroht werden und die nukleare Abschreckung dementsprechend eine Rolle in unserer Sicherheitsarchitektur spielt. Im nächsten Schritt können wir darüber debattieren, wie genau unsere Abschreckung aussehen soll. Denn derzeit signalisieren wir Russland, dass wir unvorbereitet sind. Das ist die kognitive Komponente. Dann gibt es noch eine physische Komponente.

So etwas wie die Brigade der Bundeswehr, die bald in Litauen stationiert sein wird?

Diese physische Komponente ist unsere konkrete Abschreckungsfähigkeit gegenüber Russland, genau. Was brauchen wir da? Wir müssen in der Lage sein, solche Worst-Case-Szenarien, wie ich es skizziert habe, gezielt abzuschrecken. Denn wir sehen diese Szenarien in russischen Quellen und müssen davon ausgehen, dass Moskau sie ganz konkret in Betracht zieht. Für das Szenario, das wir hier besprochen haben, ist entscheidend, dass wir eine effektive Vorwärtsverteidigung haben, etwa mit der Division in Litauen. Das heißt, NATO-Territorium wird direkt an der Grenze mit Russland verteidigt.

Damit es gar nicht so weit kommt, dass von Russland besetztes Gebiet hinterher zurückerobert werden muss?

Von der Stunde Null an sind wir bereit und fähig, NATO-Territorium zu verteidigen, damit wir gar nicht erst in diese Zwangslage hineinkommen, dass Russland sein nukleares Schutzgebiet ausweitet und dadurch psychologischen Druck ausüben kann. Zusätzlich brauchen wir mehr Raketen und Flugabwehr, um uns gegen tiefe Schläge ins Hinterland zu verteidigen. Außerdem benötigen wir eine Fähigkeit zum Gegenschlag - Langstreckenwaffen wie den Taurus zum Beispiel. Damit signalisieren wir Russland: Wenn ihr auf uns schießt, schießen wir zurück.

Was heißt das aus Ihrer Sicht für den Verteidigungshaushalt, für unsere grobe finanzielle Planung der nächsten Jahre?

Das wird teuer. Es wird wirklich teuer. Deswegen ist es ja auch so wichtig, eine größere gesamtgesellschaftliche Debatte darüber zu führen. Um klarzumachen, dass wir in den kommenden Jahren viel in Verteidigung investieren müssen, denn unsere Arsenale sind leer, unsere Verteidigungsfähigkeit ist am Limit. Ich würde sagen, die zwei Prozent des BIP, die die NATO für Verteidigung fordert, wären für die nächsten Jahre das absolute Minimum.

Deutschland erreicht das Zwei-Prozent-Ziel in diesem Jahr nur, indem selbst Pensionszahlungen an ehemalige Soldaten noch zur Verteidigungsausgabe erklärt werden. Haben andere EU-Staaten da höhere Ansprüche?

Natürlich. Die osteuropäischen Staaten haben es begriffen. Die stehen ja auch schon jetzt einer existenziellen Bedrohung durch Russland gegenüber - konventionell und nuklear. Deswegen hat Polen zum Beispiel entschieden, vier bis fünf Prozent seines BIPs für Verteidigungsausgaben aufzuwenden. Die Balten sind zwar klein und wirtschaftlich nicht so stark, aber auch sie investieren viel, weil sie genau wissen, was auf dem Spiel steht. Estland, zum Beispiel, will bis drei Prozent seines BIPs in die Verteidigung investieren. Putin denkt politisch anders als wir, er hat die territoriale Integrität und Souveränität der osteuropäischen Staaten nie akzeptiert, er kann keine glaubwürdigen Sicherheitsgarantien geben. Das sollten auch deutsche Politiker begreifen, da wäre uns allen geholfen.

Mit Fabian Hoffmann sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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