Politik

Masse statt Wunderwaffe Kinschal-Raketen sind Russlands Hoffnung im Krieg der Rüstungsindustrien

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Die ukrainische Luftabwehr hatte lange große Probleme mit den russischen Kinschal-Raketen. Das ist vorbei, die angebliche "Wunderwaffe" ist keine. Allerdings passen die Kinschals gut zur Abnutzungsstrategie der Russen.

Nach den ukrainischen Luftangriffen auf Ziele in der russischen Stadt Belgorod am 29. und 30. Dezember hat Russland seinen Beschuss auf die Ukraine noch verstärkt. Am Dienstagmorgen waren vor allem Kiew und Umgebung sowie die Stadt Charkiw im Visier der Russen. Mindestens vier Ukrainer kamen bei den Angriffen ums Leben.

Und dies, obwohl die Luftabwehr durchaus erfolgreich war: Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, 59 Luft-Boden-Marschflugkörper Ch-55 seien abgeschossen worden, außerdem drei Lenkwaffen-Marschflugkörper von Typ Kalibr sowie alle zehn Kinschal-Raketen. Insgesamt habe die russische Armee mindestens 99 Raketen und zahlreiche Drohnen abgefeuert.

Der russische Machthaber Putin nannte die Angriffe auf Belgorod einen "Terrorakt", auf den Russland reagiere, indem es Angriffe auf militärische Einrichtungen in der Ukraine "intensivieren" werde. Ob die Ukraine mit ihren Angriffen auf Belgorod zivile Opfer beabsichtigt oder diese in Kauf genommen hat, ist unklar; nach russischen Angaben kamen 25 Zivilisten ums Leben. Sicher ist jedoch, dass Terror in diesem Krieg allein vom Aggressor ausgeht. Allein am Freitag wurden in der Ukraine mindestens 39 Menschen getötet.

"Dann gleitet die Rakete nur noch"

Bemerkenswert an diesen Angriffen ist nicht nur, wie konsequent Putin die Fakten verdreht. Bemerkenswert ist auch, dass die Ukraine alle Kinschal-Raketen stoppen konnte - nach Angaben des ukrainischen Oberkommandierenden Walerij Saluschnyj ein neuer Rekord. Dabei ist diese Rakete, die von Kampfjets aus abgefeuert wird, in Russland als "Wunderwaffe" bezeichnet worden - und tatsächlich bereitete sie der ukrainischen Flugabwehr zunächst große Schwierigkeiten. Den ersten Abschuss einer Kinschal meldete die Ukraine erst im Mai 2023. Eine Wunderwaffe ist der "Dolch" - wie "Kinschal" auf Deutsch heißt - nicht. Aber der Raketentyp passt gut zur generellen Abnutzungsstrategie der Russen, die sowohl beim Verheizen der eigenen Soldaten als auch bei der Technik auf Masse setzt.

Kinschal-Raketen sind leicht modifizierte Iskander, eine Boden-Boden-Rakete mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Anders als diese werden Kinschal allerdings von einer MiG-31 abgefeuert, sagt Militärexperte Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations in Berlin zu ntv.de. Das mache es schwieriger, sie abzufangen. "Es ist auch schwieriger, Vorwarnungen auszusprechen, weil das Ding schneller hereinkommt." Luftalarm wird in der Ukraine daher bereits ausgelöst, wenn Kampfflugzeuge dieses Typs in Belarus aufsteigen. "In dem Moment, wo die Raketen vom Kampfjet abgefeuert werden, wäre es für Schutzmaßnahmen zu spät", so Gressel. "Dann dauert es bis zum Einschlag nur noch zwei bis fünf Minuten."

Zwar haben Kinschal-Raketen eine größere Reichweite als Iskander. Aber die von Russland angegebenen Spitzengeschwindigkeiten der angeblichen Wunderwaffe sieht Gressel skeptisch: "Es ist ein Boost-Glide-Vehicle. Das heißt: Es wird sehr schnell beschleunigt, dann aber gleitet die Rakete nur noch, denn sie hat keinen eigenen Antrieb." Da die Spitze der Rakete nach dem Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zu glühen anfängt, entstehe um den Flugkörper ein Plasmabogen, der dafür sorge, dass die Kinschal von einem Radar zunächst nur schwer zu erfassen sei. "Die hohe Geschwindigkeit und damit den Plasmabogen kann die Kinschal allerdings nicht durchhalten."

Keine Hyperschallwaffe

Deshalb sei die Kinschal auch nicht, wie häufig behauptet, eine Hyperschallwaffe, sondern die Weiterentwicklung einer ballistischen Rakete, betont Verteidigungsexperte Nico Lange, Senior Fellow Zeitenwende-Initiative bei der Münchner Sicherheitskonferenz. "Die Kinschal fliegt sehr schnell und ist schwierig abzuwehren", so Lange. "In der Ukraine zeigt sich jedoch, dass Patriot-Luftverteidigungssysteme Kinschal-Raketen abwehren können." Die Ukraine habe sogar Wellen aus mehreren gleichzeitig abgefeuerten Raketen mit Patriot-Flugabwehrraketen abgeschossen. Langes Fazit: "Das russische Bohei um Kinschal ist nicht gerechtfertigt."

Weil die Kinschal schneller fliege als eine Iskander, müsse ein Patriot-Luftabwehrsystem näher am Ziel der Rakete stehen, um sie erfolgreich abfangen zu können, sagt Gressel. "Aber das Ding ist abfangbar, und die Ukrainer haben die kriegserprobteste und beste Flieger- und Raketenabwehr der Welt - nach den Israelis, aber vielleicht auch neben oder sogar vor ihnen." Die Abschusszahlen der ukrainischen Luftwaffe hält Gressel, der zwischen 2006 und 2014 im österreichischen Verteidigungsministerium tätig war, für plausibel. "Die decken sich durchaus mit den Werten, die wir damals, als die Kinschal sich noch in der Entwicklung befand, im Bundesheer in Simulationen errechnet haben."

"Zentrale Erkenntnis bei Entscheidungsträgern noch immer nicht angekommen"

Allerdings sei häufig mehr als eine Patriot-Rakete nötig, um eine Kinschal abzuschießen. "Oft ist die zeitliche Spanne, in der eine solche Rakete abgefangen werden kann, so kurz, dass man auf Verdacht schießen muss. Das treibt den Munitionsverbrauch der Ukraine in die Höhe." Das sei das größte Problem mit den Kinschals, so Gressel: "Patriots zu beschaffen, ist schwierig, die Produktionszeiten dieser Abwehrraketen sind lang. Das ist der Effekt, auf den Russland setzt: dass es mehr Kinschals produziert als der Westen Patriots." Darauf weist auch Militärexperte Markus Reisner hin: "Russland versucht zunehmend, die Fliegerabwehrsysteme, die der Westen geliefert hat, zu übersättigen. Dahinter steckt das Ziel, eine stete Abnutzung zu erreichen", sagt er.

Die Frage, wer diesen industriellen Abnutzungskrieg gewinne, wird daher nicht in der Ukraine entschieden, sondern in den westlichen Hauptstädten. Diese zentrale Erkenntnis sei bei den Entscheidungsträgern im Westen auch knapp zwei Jahre nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine nicht angekommen: "Dies ist auch ein Krieg der Rüstungsindustrien."

Quelle: ntv.de

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