Leben

Eine für alle Moskau, mon Amour

So nah und so so fern. Im Augenblick.

So nah und so so fern. Im Augenblick.

(Foto: picture alliance / pressefoto_korb)

Wir hatten Rückenwind. Wir hatten Frieden und glaubten, dass es immer so weitergehen würde. Also die Kolumnistin zumindest dachte das in ihrer grenzenlosen Naivität. Die Bilder auf ihrem Handy machen ihr schmerzhaft klar, dass alles anders ist.

Auf meinem Handy ploppten heute Morgen ein paar Bilder auf, aus Moskau. Ich auf dem Roten Platz, im Ballett, mit (unechter) Fellmütze. Unbeschwert. Bunt. Interessant. Ich erinnere mich, dass ich es geliebt habe, in Moskau herumzulaufen. Mit anderen, alleine - ich fühlte mich sicher (hinter mir waren schließlich immer ein paar Typen, die darauf geachtet haben, dass mir nichts passiert, voll angenehm). Naja, es war eine Pressereise, es ist vier Jahre her und ich hätte nicht gedacht, dass es einmal so weit kommen würde, dass ich meinen Kindern sagen muss: "Reiseziel Moskau? Ungefähr so 'ne gute Idee wie Teheran oder Myanmar." Es tut mir leid, nein, ich korrigiere mich, es tut mir geradezu weh, dass ich das sagen muss, denn ich würde gern, dass meine Kinder und ich Moskau, Teheran und Myanmar erkunden könnten. Was für faszinierende Orte auf dieser Welt, voller Kultur und gutem Essen, netten Menschen und wunderbaren Landschaften.

Aber nichts da: Fällt aus wegen politischer Weltlage. Ein alter Bekannter aus Amerika hat mir neulich wieder erzählt, wie er damals in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts monatelang, wenn nicht jahrelang durch die Welt gereist ist, über Marokko nach Afghanistan bis in die tiefsten, verrauchtesten Ecken Burmas (heute Myanmar). Ich weiß schon lange, dass ich eine Reise dieser Art wahrscheinlich nicht antreten werde. Erstens, weil ich eine Frau bin (schwaches Argument, ich weiß), zweitens, weil ich noch nie monatelang Zeit hatte (dummes Argument, sollte man ändern können), drittens, weil ich zu bequem geworden bin (ganz bescheuertes Argument, vor Kurzem war ich immerhin noch zelten), und viertens, weil ich auf dem Landweg, so wie mein Bekannter damals, durch Irak und Iran reisen müsste (richtig beknackte Idee momentan). Und schließlich nervt mich ja schon die Bestuhlung bei Easyjet.

Egal, ich hätte nicht gedacht, dass ich mich einmal so eingeschränkt fühlen könnte wie heute, 2022. Haben viele 2019 noch mit einem Ferienhaus auf Malle geliebäugelt, sind sie nun heilfroh, diesen Schritt nicht gegangen zu sein, denn ich sehe niemanden mehr "einmal im Monat schnell eben" irgendwohin jetten. Fliegen nur noch interkontinental oder wenn es gar nicht anders geht, höre ich immer wieder. Und diese vielen Wochenenden in den schönsten Städten Europas kommen mir vor wie aus einem anderen Jahrhundert.

Ruck im Rücken

Und das ist bei Weitem ja nicht das Problematischste, was im Moment nicht geht. Anfang der Woche hat unser Bundespräsident eine Rede zur Lage der Nation gehalten, die - man mag Herrn Steinmeier ja finden wie man will - doch schon eine gewisse "Ruck"-Qualität ("Durch Deutschland muss ein Ruck gehen", Roman Herzog, Bundespräsident 1994-99) hatte. 25 Jahre später nennt Steinmeier die Jahre vor dem 24. Februar 2022, also vor dem feindlichen Angriff Russlands auf die Ukraine, die "Epoche des Rückenwinds". Ich zitiere noch ein bisschen mehr, weil ich es tatsächlich immer noch nicht fassen kann, dass dieser Rückenwind nun nicht mehr wehen soll (verspüre allerdings einen unangenehmen Ruck im Rücken): "Es waren Jahre geprägt vom Glücksmoment der Deutschen Einheit, vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenwachsen Europas. Es waren Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben." Stimmt. Aber warum sollte das jetzt vorbei sein?

Meine Freundin F. meinte neulich: "Schau, Sabine, wir hatten über 70 Jahre Frieden." Ja, und? Ich habe in meiner wahrscheinlich unendlichen Naivität gedacht, dass das so bleiben würde. Und ja, wir sind nicht persönlich im Krieg, aber es fühlt sich doch sehr vor der Haustür an. Die russischen und ukrainischen und iranischen und afghanischen Freunde haben selbstverständlich andere Sorgen als "Wie und wohin werde ich reisen können?" oder "Was ziehe ich heute Abend an?". Das gesamte Gefüge ist ver-rückt, und wie meine kluge Freundin B. so schön zusammenfasste: "Bei Jenga würde jetzt alles einstürzen."

Als 2011 die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft und die Bundeswehr zu einer Freiwilligenarmee wurde, dachte ich, dass wir "es" geschafft haben: Alle haben sich lieb, und die, die sich noch nicht lieb haben, die überzeugen wir noch, und wenn wir sie zu Tode kuscheln müssen. Wir haben schließlich gelernt, aus Kriegen, aus Fehlern der Geschichte - dachte ich - der Mensch ist weitergekommen, hat sich entwickelt und hat sich oft genug gefragt, um Udo Lindenberg zu zitieren: "Wozu sind Kriege da?" Ein weiterer Krieg auf unserem Kontinent - wohl wissend, dass es überall woanders auf der Welt auch während unserer "Rückenwind-Phase" weiterhin Kriege gab - schien mir unmöglich.

Kopfkino adé

Zurück nach Moskau, dort bin ich U-Bahn gefahren, lieber und entspannter als in New York, ich bin im Dunkeln durch die Straßen gelaufen - lieber als durch die Berliner Wilmersdorfer Straße im Hellen - und ich habe mir vorgestellt, wie ich mich ins Auto setze und raus aus Moskau fahre, weiter, bis nach Sibirien. Dass ich diese Träume nicht einmal mehr rein theoretisch im Kopfkino vor mich hin träumen kann, darüber bin ich entsetzt. Darüber, dass ich nicht in die wunderbare Ukraine reisen kann, bin ich traurig. Dafür, dass meine ukrainischen Freunde in ihrer Heimat keinen Stein auf dem anderen mehr vorfinden werden, finde ich tatsächlich keine Worte.

In einer Zeit, in der wir chinesische Polizeibüros mitten in Deutschland haben und Teile eines Hafens, wenn auch aus strategischen Gründen, verschachern müssen, in der ein Multimilliardär sich ein soziales Netzwerk kauft und waltet wie ein Sonnenkönig, in Zeiten, in denen Menschen glauben, sich auf dem Straßenpflaster festbappen oder wertvolle Gemälde mit Kartoffelbrei bewerfen zu müssen, um auf die Klimakatastrophe dieser Welt aufmerksam zu machen, weil sie keinen anderen Weg sehen, scheint Hopfen und Malz verloren. Ich komme mir vor wie in der Steinzeit. Meine Tochter fragte mich neulich: "Mami, wie, glaubst du, werden die Menschen in 20 bis 30 Jahren auf diese Zeit zurückblicken? Glaubst du, man wird uns für intelligent halten?"

Ihre Frage erschütterte und beruhigte mich gleichermaßen: Sie erschütterte mich, weil ich nicht glaube, dass wir in 20 bis 30 Jahren für wahnsinnig intelligent gehalten werden von unseren Nachfahren, und sie beruhigte mich, weil sie tatsächlich denkt, dass diese Erde sich in 20 bis 30 Jahren noch immer drehen wird und es Menschen oder Wesen geben wird, die sich solche Fragen überhaupt werden stellen können.

Meine Grundeinstellung, mit der ich geboren wurde, ist durchaus optimistisch (danke dafür an meine Eltern), aber wie machen die das, die schon immer dachten, alles ist nur so mittel bis mies? Ich gehe mal lieber in die Kirche diesen Sonntag, ein paar Kerzen anzünden. Ein friedliches Wochenende Ihnen!

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen