Zwischen Spektakel & Aufklärung Der Skandal wird allgegenwärtig
11.07.2012, 10:20 Uhr
Guttenberg erklärt seinen Rücktritt.
(Foto: REUTERS)
Ein Handy-Video kann eine Karriere beenden, eine Twitter-Botschaft eine Welle der Empörung auslösen und eine SMS zum Beweis werden, mahnt der Medienwissenschaftler Berhard Pörksen. Durch die digitalen Überall-Medien verbinden sich Zeigefreudigkeit und Schaulust auf einzigartige Weise mit neuen technischen Möglichkeiten. Mit gravierenden Folgen.
Ein handfester Skandal kann nicht nur Politiker Ansehen, den Titel oder gar den Job kosten, sondern auch Nichtprominente, Ohnmächtige, ja Unschuldige. Eine Verfehlung sorgt für riesige Schlagzeilen - bis der nächste Skandal kommt. Denn durch soziale Netzwerke und mobile Endgeräte hat sich die Welt der Skandale komplett verändert, sagt der Skandalforscher Bernhard Pörksen im Gespräch mit n-tv.de. Die klassischen Massenmedien, die früher entschieden, was ist wichtig, was ist glaubwürdig, sind längst nicht mehr die wichtigsten Akteure. "Heute kann jeder selbst entscheiden, was er für veröffentlichungswürdig hält und was nicht", so Pörksen.
Und er kann es vor allem auch gleich selbst publik machen - mit einer Twitter-Nachricht, einem Facebook-oder Blog-Eintrag oder einem Video, das er bei Youtube reinstellt. Schon wird der Öffentlichkeit ein Empörungsangebot unterbreitet, der frühere Zuschauer wird zum Akteur. Diese Tatsache hat zwei gravierende Folgen, fand Pörksen bei der gemeinsamen Forschung mit seiner Kollegin Hanne Detel heraus. Zum einen kann damit potenziell jeder Opfer eines Skandalisierungsgeschehens werden, zum anderen funktionieren die früheren Regeln des Skandalmanagements nicht mehr.
Wutausbruch oder politische Enthüllung
Pörksen und Detel haben für ihr Buch "Der entfesselte Skandal" eine ganze Reihe von kuriosen, traurigen, manchmal schlicht grausamen Geschichten aus der Welt der digitalen Skandale und Skandälchen zusammengetragen. Sie zeichnen ein Panorama von einem Wutausbruch in einem Nachtbus in Hongkong über öffentlich zelebrierte Sexualität oder eine vor Publikum ausgetragene Scheidung bis hin zur Offenbarung schwerer Menschenrechtsverletzungen wie der Hinrichtung von Zivilisten im Irak oder den Folterfotos von Abu Ghreib.
"Das Skandalisierungsgeschehen bewegt sich im digitalen Zeitalter zwischen zwei Extrempolen, auf der einen Seite das grausame Spektakel um eine Banalität, eine Nichtigkeit, die sich plötzlich weltweit verbreitet", erläutert Pörksen. "Auf der anderen Seite gibt es äußerst relevante Skandale, die an die Öffentlichkeit müssen." Der Medienwissenschaftler wehrt sich auch deshalb dagegen, die neuen Entwicklungen zu verteufeln. Die Folterfotos von Abu Ghreib seien mit einer kleinen Digitalkamera gemacht worden und durch die Nachlässigkeit eines der Haupttäter an die Öffentlichkeit gelangt. Doch ihre weltweite Verbreitung rettete Menschenleben, "weil sie eine grausame und verabscheuungswürdige Praxis in diesem Gefängnis von einem Tag auf den anderen beendet haben".
Fallhöhe ist unerheblich
Andererseits wird der kommunikative Kontrollverlust zur Alltagserfahrung, die Unterscheidung von Prominenten und Nicht-Prominenten kollabiert. "Potenziell kann heute jeder einen Skandal auslösen und auch jeder zum Opfer oder zum Objekt eines Skandals werden."
Diese Erfahrung macht nicht nur der deutsche Minister Karl-Theodor zu Guttenberg, dessen Doktorarbeit von einem auf "Entlarvungskurs getrimmten Schwarm" untersucht wird, bis Guttenberg nur noch der Rücktritt bleibt. Sie betrifft vielmehr gleichermaßen zwei Mitarbeiterinnen der Bundesagentur für Arbeit, deren privater E-Mail-Austausch durch einen Fehler an eine größere Lesergemeinde gerät und deren Namen bis heute relativ leicht recherchierbar sind.
Die ewige Gegenwart

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Uni Tübingen.
Vor allem an letzterem Beispiel wird eine weitere Eigenschaft des digitalen Skandals deutlich: "Der entfesselte Skandal hat seine eigene Zeitform – eine potenziell ewige Gegenwart und ewige Permanenz der Präsenz, die kein Vergessen kennt", schreibt Pörksen. Das Publikum sei nicht mehr eingrenzbar wie noch im Papierzeitalter. "Die Inhalte sind auf Dauer verfügbar, aus einer Ad-hoc-Äußerung wird ein dauerhaftes Dokument." Selbst wenn die Dokumente der Blamage und Demontage von der ursprünglichen Quelle wieder entfernt werden, sind sie längst kopiert und mit neuer Leichtigkeit im weltweiten Netz unterwegs, bereit, weiterverbreitet zu werden, jedem Ansatz von Zensur entzogen.
Der Betroffene kann im besten Fall auf das Vergessen des Publikums hoffen oder darauf, dass sein Skandal von der Empörungswelle über die Verfehlung eines anderen aus dem öffentlichen Bewusstsein weggespült wird. Die alten Techniken des Krisenmanagements - abwarten und nur das zugeben, was ohnehin bekannt ist - funktionieren jedenfalls nicht mehr. Zensur mache häufig mobil und erzeuge gerade Aufmerksamkeit. Das Scheitern von Guttenberg oder auch von Christian Wulff belege dies. Vielleicht brauche nicht jeder eine Medienstrategie, wie sie bisher Prominenten vorbehalten war. "Aber zumindest brauchen wir ein waches Bewusstsein dafür, dass Kommunikation heute in einer nie geahnten Weise eskalieren kann."
Neues Zeitalter
Pörksen und Detel kommen deshalb zu dem Schluss, dass "wir uns permanent die Fragen stellen müssen, die früher nur Medienprofis und Journalisten vorbehalten waren". Im Moment sei das noch eine utopische Bildungsvorstellung, denn unser Bewusstsein passe nicht zu unserem medialen Sein. Der Medienwissenschaftler spricht von einer "Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Kommunikationstechnologien".
Zur Medienkompetenz gehöre es deshalb, die Frage beantworten zu können: "Was ist wirklich wichtig?" Dazu zähle bereits die Überlegung, wozu die Smartphones und Handys, die neuen "Allzweckwaffen der Skandalisierung" überhaupt genutzt werden sollen. Was soll aufgezeichnet, was verbreitet werden und warum? "Selbst die Technikafficionados in den Reihen der Piraten haben diese Dimension in keiner Weise begriffen", stellt Pörksen fest. Sie verstünden zwar das Netz, aber nicht die "Kommunikationseffekte, die sie darin auslösen".
Im digitalen Zeitalter gelten neue Regeln, schlussfolgert Pörksen - Der kategorische Imperativ des digitalen Zeitalters lautet daher: "Handele stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen." Aber, gibt Pörksen zu bedenken, es gebe im Leben immer unbeobachtete Momente. "Es werden immer Fotos von einer Party bei Facebook auftauchen, oder SMS an falsche Empfänger versandt werden oder E-Mails an einen zu großen Verteiler." Der zweite Teil des Imperativs lautet deshalb: "Aber rechne damit, dass dies nichts nützt."
Quelle: ntv.de