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Ein Soldat berichtet Ekel vor sich selbst

Achim Wohlgethan ekelte es vor sich selbst. Der schwer bewaffnete Bundeswehrsoldat hatte gerade ein Mädchen mit Steinen in die Flucht geschlagen. Die Kleine war direkt auf ihn zugegangen und er hatte Angst, dass es ein von den Taliban als Mordwaffe missbrauchtes Kind sein könnte. Das war 2002 in Kabul.

"Nie zuvor und danach habe ich mich so leer und ausgebrannt gefühlt", schreibt der ehemalige Stabsunteroffizier in seinem Buch "Endstation Kabul". Gemeinsam mit seinem Ko-Autor Dirk Schulze, der damals ebenfalls in Afghanistan war, stellte er es in Berlin vor. Den Gedanken, auf Kinder zu schießen, um das eigene Leben zu retten, konnte und kann er nicht ertragen.

Mehr als erlaubt

Die beiden früheren Bundeswehrsoldaten beschreiben in dem rund 300 Seiten starken Buch (Econ-Verlag) die von ihnen erlebte Wirklichkeit in Afghanistan. Sie berichten, dass Soldaten außerhalb des vom Bundestag beschlossenen Mandats für die Beteiligung an der Internationalen Schutztruppe ISAF eingesetzt worden seien.

Außerdem habe Wohlgethan in Kabul dem Militärischen Abschirmdienst MAD zugearbeitet, obwohl dieser 2002 noch gar keine entsprechende gesetzliche Befugnisse dazu im Ausland hatte. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums erklärte dazu, die Aspekte würden mit der "notwendigen Sorgfalt, aber auch der gebotenen Gelassenheit" geprüft.

Abgesehen von etwaigen Rechtsverstößen schildert Wohlgethan einen psychisch schwer zu verkraftenden Alltag. Um zu testen, wo Minen sein könnten, hätten ISAF-Soldaten Kinder herangewunken und Äpfel auf die Felder geworfen. Rannten die Mädchen und Jungen dem Obst hinterher "und es gab keinen Knall", galt das Gelände als unvermint. Liefen die Kinder nicht los, wurden Spezialkräfte zur Entschärfung gerufen. "Erst mit Abstand wurde mir die Unglaublichkeit dieser Vorgehensweise klar, die mit nichts zu entschuldigen ist. Wie konnten diese ISAF-Soldaten denn davon ausgehen, dass die Kinder genau wussten, wo Minen waren?"

Soldaten als Schauspieler

Wohlgethan berichtet auch, welchen Einblick die Militärführung Politikern und Journalisten aus Deutschland bei Besuchen im Feldlager gewährten, so auch bei einer Stippvisite des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Geradezu nach einer Choreographie seien den Soldaten während der meistens eintägigen Besuche Rollen zugewiesen worden. Es seien neue Wege angelegt worden, damit die Gäste trockenen Fußes von A nach B gelangen konnte.

Die Belegung von zehn Mann in einem Zelt sei kurzfristig auf zwei reduziert und Tische wie im Hotel eingedeckt worden. Das Signal nach Außen: Alles ruhig, alles in Ordnung. Und die Presseoffiziere der Bundeswehr und die deutschen Medien hätten kritiklos "substanzloses Blabla" verbreitet. Im Camp habe man nur von einem "Affen-Zirkus" gesprochen.

Angst vor Minen

Der Autor sagt, er habe das Buch erst nach dem Ausscheiden aus der Bundeswehr schreiben können. Denn sonst hätte es "der Zensur" unterlegen. Die Soldaten erlebten in Afghanistan Vorfälle, die sich in Deutschland kaum jemand vorstellen könne. Die beiden Ex-Soldaten wollen "Türöffner" für eine breite Diskussion in Deutschland sein.

Das Schlusskapitel widmet Wohlgetan seiner Rückkehr "in der fremd gewordenen Heimat". Es sei keine gute Strategie der Bundeswehr, dass die Soldaten sofort Urlaub hätten. Sie sollten lieber wie in anderen Ländern zunächst weiter zum Dienst gehen und langsam in die freie Zeit gehen. Für ihn habe damals eine sehr einsame Zeit begonnen und er habe gegen ein "schwarzes Loch" ankämpfen müssen. Und bis heute gehe er über keine Wiese, ohne eine Mine zu befürchten.

Quelle: ntv.de, Kristina Dunz, dpa

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