Craig Thompsons "Blankets" Liebe, Lust – und Sünde
02.02.2010, 19:50 UhrLiebe macht neugierig, sie verändert die Sicht auf die Welt. Oder sie zertrümmert Weltbilder und stellt Identitäten in Frage, wie in Craig Thompsons Comic-Meisterwerk "Blankets".
Eine neue Liebe ist wie ein weißes Blatt Papier, wie eine von Schnee verdeckte und versteckte Landschaft. Unberührt, unentdeckt, unschuldig. Craig Thompson erzählt in seiner Graphic Novel "Blankets" die Geschichte einer solchen Liebe im verschneiten Michigan – und geht doch weit darüber hinaus. Der nach autobiographischen Erlebnissen entstandene Comic gräbt tief in den Schnee hinein, deckt die Unebenheiten der Landschaft auf, legt die Vergangenheit der Protagonisten frei und offenbart so auch eine gesellschaftliche Zustandsbeschreibung des christlich-fundamentalistischen Mittleren Westens der USA.
Thompson hat mit "Blankets" einen Comic vorgelegt, der in Sachen Komplexität, Bildsprache und Umfang dem Genre neue Impulse verliehen hat. Völlig zu Recht wurde er bei seinem Erscheinen 2004 als "Meilenstein" der US-Comicgeschichte gefeiert und mit Preisen überhäuft. Er ist bis heute eines der wenigen Werke, die in einem Jahr die drei wichtigsten US-Comicpreise erhielten: den Harvey-, den Eisner- und den Ignatzaward.
"Fancy-schmancy"
Gerade der Bezug auf Will Eisner passt, denn Thompson versteht es wie der Graphic-Novel-Übervater, mit Bildern Stimmungen auszudrücken und Sprache zu ersetzen. In diesem Sinne wird die Wiederveröffentlichung als edles Hardcover bei Carlsen dem Werk mehr als gerecht – oder, um es mit Thompsons Worten zu sagen: Die Neuauflage ist "fancy-schmancy".
Craig – der Protagonist trägt denselben Namen wie der Autor – wächst mit seinem Bruder in einem erzkonservativen christlichen Elternhaus auf. Sünde und Schuld, Gehorsam und Strafe, Himmel und Hölle gehören fest zu seiner Kindheit, ebenso der Missbrauch durch den Babysitter. In der Schule eckt der schwächliche Junge an, wird verprügelt und gedemütigt. Nur durch Träume entflieht er dieser Welt – und durch das Zeichnen. Als er in der Sonntagsschule von Himmel und Ewigkeit hört, kennt er nur noch ein Ziel: das "Streben nach dieser Welt, einer ewigen Welt, die mein vergängliches Elend fortspülen würde".
"Flieht die Hurerei!"
Als Jugendlicher ist Craig als strenggläubiger Christ, als nachdenklicher Zeichner und auch als Vegetarier und Antialkoholiker ein Außenseiter, sein Pastor drängt ihn, ein geistliches Amt anzustreben. Und doch bleiben Zweifel, nicht zuletzt, weil die jährlichen Bibelcamps in den Ferien nicht seinem Bild von Kirche und Glauben entsprechen. Alles ändert sich, als er in dem Camp Raina kennenlernt – auch sie eine Außenseiterin. Nach Kennenlernen und Briefwechsel besucht er sie in Michigan bei ihren Eltern, die in Scheidung leben.
Die zärtliche, langsame Annäherung der beiden bildet den Kern des Buches. Craigs streng-religiöse, lustfeindliche Erziehung wird hinterfragt, er gerät in einen Zwiespalt zwischen Sehnsucht und Glauben: "Ich fühle mich nicht wirklich gut dabei, jemanden zu wollen", sagt er zu Raina, "es fühlt sich lüstern an". Als sie erstmals, heimlich im selben Bett schlafen, schwankt er gedanklich zwischen Schuld und Dankbarkeit, zwischen Korintherbrief ("Flieht die Hurerei!") und dem Hohelied Salomon ("Du bis wunderbar schön, meine Freundin, kein Makel ist an dir."). Gerade diese innere Zerrissenheit seines Protagonisten fängt Thompson grafisch kongenial ein, indem er Panels sprengt, Hintergründe einflechtet, die Gedanken mit religiösen Motiven symbolisch überhöht.
"Eine widerliche kackbraune matschige Sauerei"
Geschickt verschränkt er auch Gefühle und Natur, erste Liebe und schneebedeckte Landschaft miteinander. Für Craig ist das alles – auch in einem religiös-ethischen Sinne – "sauber und rein". Für Raina dagegen, die in ihrer zerrütteten Familie Verantwortung übernehmen muss, sich auch um ihre behinderte Schwester kümmert, wird der Schnee bald schmutzig sein, "eine widerliche kackbraune matschige Sauerei". Es sind ihre Zweifel an Himmel und Zukunft, in denen auch Craig bald die Grenzen des Glaubens erkennt, er beginnt nicht Gott, wohl aber Bibel und Kirche zu hinterfragen. So werden die zwei Wochen mit Raina Craigs Reifeprüfung, in denen er lernt, Fragen zu stellen, und sich nicht mehr dem Glauben seiner Eltern unterzuordnen, sondern seinen eigenen Weg zu gehen.
Loslösung von den Eltern und Identitätssuche, erste Liebe, Sehnsucht und Enttäuschung, Befreiung von religiösen Erziehung – nicht weniger als diese komplexen Themen verwebt Thompson auf unnachahmliche Weise zu einem Meisterwerk, dessen Lektüre sich gerade in der kalten Jahreszeit lohnt.
In Deutschland liegt von Thompson außerdem der fantastische Skizzenband "Tagebuch einer Reise" (Reprodukt, 2005) vor, in dem er seine Tour durch Europa und Marokko festgehalten hat. Die Reise diente nicht zuletzt der Recherche für sein neues Buch "Habibi", dessen Entstehung man auf Thompsons Blog nachverfolgen kann.
Craig Thompson: "Blankets", Carlsen Verlag Hamburg 2009, Hardcover 592 Seiten, € (D) 38,-, ISBN 978-3-551-74907-9
Quelle: ntv.de