Viele Zugewanderte und FamilienBericht: Hunderttausende sind in Deutschland ohne Wohnung

Die Zahlen sind alarmierend: Einer Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe zufolge haben immer mehr Menschen keine eigene Wohnung. Auf der Straße leben die meisten trotzdem nicht. Besonders betroffen sind Nicht-Deutsche.
Ob in Fußgängerzonen oder an Bahnhöfen - Obdachlosigkeit ist in vielen Städten ein sichtbares Problem. Wohnungslosigkeit hingegen ist weniger sichtbar, obwohl laut einer neuen Hochrechnung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) viele Menschen betroffen sind. Demnach waren im Verlauf des vergangenen Jahres 1.029.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Zum Stichtag 30. Juni 2024 waren es demnach 760.000 Menschen. Als wohnungslos gilt laut der Definition der BAG W, wer über keine eigene mietrechtlich abgesicherte Wohnung oder Wohneigentum verfügt.
Darunter fallen auch rund 56.000 Obdachlose, die also ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. Der Großteil der Wohnungslosen ist laut der Hochrechnung aber ordnungsrechtlich durch die Städte und Kommunen oder über nicht-staatliche Verbände untergebracht, zum Beispiel in Notunterkünften. Wie groß der Anteil der Menschen ist, die privat bei Freunden und Verwandten unterkommen, ist in der Erhebung nicht ersichtlich.
Insgesamt zeige sich bei der Wohnungslosigkeit ein Anstieg von 11 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Von 2022 und 2023 war es sogar ein Zuwachs von 54 Prozent, was jedoch zum Teil auf eine verbesserte Erfassung wohnungsloser Geflüchteter in Nordrhein-Westfalen zurückzuführen gewesen sei. "Der generelle Trend einer besorgniserregenden Zunahme der Wohnungslosigkeit hält unvermindert an", heißt es in der Pressemitteilung.
Aber wer sind diese Menschen? Nur 209.000 haben einen deutschen Pass. Eine deutliche Mehrheit hat keine deutsche Staatsbürgerschaft (820.000). Darunter fallen 55.000 EU-Bürger, die meisten sind Staatsbürger anderer Länder oder staatenlos. Auffällig ist der BAG W zufolge ein starker Anstieg bei den wohnungslosen Nicht-EU-Bürgern mit 14 Prozent verglichen mit den Zahlen aus 2023.
Laut Hochrechnung waren unter den Wohnungslosen 465.000 Männer (61 Prozent), 300.000 Frauen (39 Prozent) und rund 264.000 Kinder und Jugendliche (26 Prozent). Die Minderjährigen waren mehrheitlich zusammen mit ihren Eltern institutionell untergebracht. Familien seinen neben Zugewanderten besonders betroffen, heißt es in der Mitteilung. Wie viele dieser Familien auch zugewandert sind, geht daraus nicht hervor.
Unterschied zum Bundesamt
Die Ergebnisse der Hochrechnung unterscheiden sich erheblich von den jährlich erscheinenden Zahlen des Statistischen Bundesamts. Der Wiesbadener Behörde zufolge waren zum Stichtag Anfang 2024 rund 531.000 Menschen wohnungs- oder obdachlos. Das liegt unter anderem an der Erhebungspraxis. Anders als beim Statistische Bundesamt fließen bei den Zahlen der Bundesarbeitsgemeinschaft noch weitere Gruppen mit ein.
Darunter befinden sich wohnungslose Personen in Haft oder Gewaltschutzeinrichtungen, in nicht-abgesicherten Betriebswohnungen, Selbstzahlerinnen und Selbstzahler in Billigpensionen oder Menschen, die auf Campingplätzen oder in Gartenanlagen leben. Der Hauptgrund sei aber eine Untererfassung bei den institutionell untergebrachten Personen. Laut BAG W werden vor allem anerkannte Geflüchtete ohne Wohnung nicht oder nicht vollumfänglich von allen Kommunen übermittelt.
Weniger Sozialwohnungen
Und was sind die Gründe? Die BAG W nennt die anhaltende Zuwanderung, den angespannten Wohnungsmarkt mit einem Mangel an bezahlbarem und bedarfsgerechtem Wohnraum sowie Armut als Ursachen für die sich verschärfende Lage. Besonders problematisch sei der Rückgang der Sozialwohnungen, der durch jährlich auslaufende Sozialbindungen und einen unzureichenden Neubau weiter anhalte.
Die Auslöser eines Wohnungsverlustes seien vielfältig: Miet- und Energieschulden, Konflikte im Wohnumfeld, Trennung, Scheidung oder Ortswechsel. Wohnungslose Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft hingegen hatten mehrheitlich noch nie eine Wohnung in Deutschland.
"Die Wohnungslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland hat einen Höchststand erreicht und ein Ende ist nicht in Sicht", sagt Susanne Hahmann, Vorsitzende der BAG W. "Die Ursachen sind bekannt: zu wenig bezahlbarer Wohnraum, Armut und drohende Kürzungen im sozialen Sicherungssystem. Wenn Politik und Gesellschaft nicht entschieden gegensteuern, werden noch mehr Menschen ihr Zuhause verlieren."
Hilfsstellen beklagen Druck
Zudem stehen laut Mitteilung die Notfallhilfen unter Druck. Nach einer aktuellen Umfrage der BAG W sind 17 Prozent aller Einrichtungen und Dienste bereits von finanziellen Kürzungen bedroht oder betroffen. Darunter seinen nicht nur verschiedene Angebote der Notversorgung, sondern auch präventive Hilfen, deren Kernaufgabe es ist, Wohnungsverluste zu verhindern.
"Schon jetzt fehlen uns zwei Beratungskräfte, sodass in der Sprechzeit nicht alle Anfragen bedient werden können. Vermittlungen in andere Einrichtungen sind kaum möglich", sagt Elfriede Brüning, Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot Berlin. Man arbeite längst am Rande der Kapazitäten. "Teilweise wird sogar eher noch zu uns vermittelt, beispielsweise aus der gekürzten Jugendhilfe oder aus Behörden mit zu wenig Personal", so Brüning.
Die BAG W kritisiert zudem die im Koalitionsausschuss festgelegten Reformen zum Bürgergeld. Die geplante Verschärfung der Sanktionen sieht verstärkte Kürzungen und sogar die komplette Einstellung der Leistungen einschließlich der Mietzahlungen vor, wenn Termine im Jobcenter wiederholt versäumt werden. "Die geplanten Sanktionen stellen die Würde der betroffenen Menschen in Frage und riskieren, dass sie ihr Zuhause verlieren. Das ist sozialpolitisch unverantwortlich und es ist fraglich, ob die Maßnahmen einer verfassungsrechtlichen Überprüfung Stand halten würden", sagt BAG-W-Geschäftsführerin Sabine Bösing.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft leitet aus ihrer Hochrechnung einen Forderungskatalog an die Bundesregierung ab. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 zu überwinden. Noch unter der Ampel-Regierung ist zu diesem Zweck ein sogenannter Nationaler Aktionsplan entstanden.
Forderungen an Bundesregierung
Angesichts der dennoch steigenden Wohnungslosenzahlen fordert die BAG W eine Ausweitung des Bestands preiswerter Wohnungen und des Sozialwohnungsbaus sowie wirksame Maßnahmen, um die Mietpreisentwicklung zu dämpfen. Überdies brauche es verbindliche Quoten für die Wohnraumversorgung, den Ausbau eines flächendeckenden Präventionsnetzes und eine Verbesserung der Datenerhebung.
Soziapolitisch spricht sich die BAG W gegen Kürzungen in der Wohnungslosenhilfe und Verschärfungen der Sanktionspraxis bei der neuen Grundsicherung aus. "Mehr denn je braucht es ein klares Bekenntnis zum Sozialstaat und zum Schutz der Menschenwürde", sagt die Vorsitzende Hahmann. Ohne konkrete Maßnahmen drohe sonst ein weiterer Anstieg der Wohnungslosigkeit.