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Brutstätte für Super-Mutation? Brasiliens Kollaps wird zur globalen Bedrohung

Eine heftige Corona-Welle droht Brasiliens Gesundheitssystem in die Knie zu zwingen. Vor allem die vermutlich hochansteckende Variante P.1 macht dem Land zu schaffen. Was Forscher ebenfalls sorgt: Die desolate Situation könnte noch gefährlichere Mutanten hervorbringen.

Brasiliens Gesundheitssystem steht kurz vor dem Zusammenbruch. "Kollaps", titelte eine große Zeitung des Landes, angesichts der landesweit am Limit arbeitenden Krankenhäuser. Fast 300.000 Todesfälle verzeichnet das Land. Die vermutlich hochansteckende Virusvariante P.1 breitet sich weiter aus. Gleichzeitig hat die Impfkampagne mit großen Problemen zu kämpfen. Und ein zunehmend unberechenbarer Präsident will inmitten all des Chaos sogar bestehende Corona-Maßnahmen kippen. Forscher warnen angesichts all dessen bereits vor Brasilien als globaler Bedrohung.

Sorge bereitet vor allem die Virusvariante P.1, die vermutlich ihren Ursprung in Manaus im Amazonasgebiet hatte und sich nun in Brasilien ausbreitet. Sie wird auch als B.1.1.28 oder 20J/501Y.V3 bezeichnet. Laut einer Analyse der brasilianischen Gesundheitsorganisation Fiocruz machte sie Anfang März in acht Bundesstaaten bereits die Hälfte der neuen Fälle aus. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde P.1 zudem in mehr als zwei Dutzend Ländern weltweit nachgewiesen. Ende Januar hatte Hessen als erstes Bundesland einen P.1-Fall gemeldet. Seitdem tauchten in Deutschland allerdings nur einzelne Fälle auf.

Die Virusvariante P.1 bringt untere anderem zwei gefährliche Anpassungen mit sich: die N501Y- sowie die E484K-Mutation. Laut einer Studie soll sie um bis zu 152 Prozent ansteckender sein als der Wildtyp von Sars-CoV-2 - und damit sogar die derzeit in Europa grassierende Variante B.1.1.7 in den Schatten stellen. Auch könnten Mutationen es P.1 ermöglichen, der Immunabwehr von Genesenen erfolgreich auszuweichen, worauf auch eine andere Studie brasilianischer und britischer Forscher Hinweise gefunden hat. Eric Feigl-Ding, Epidemiologe und Gesundheitsökonom der Federation of American Scientists, warnte daher auf Twitter: "Wenn das ansteckendere P.1 [Virus] weltweit außer Kontrolle gerät, sind wir alle in Gefahr."

Schützt Herdenimmunität nicht vor P.1?

Noch ist allerdings umstritten, wie sehr P.1 in der Lage ist, die menschliche Immunabwehr zu umgehen. Für Aufsehen hatten jedoch die Vorgänge in der Stadt Manaus gesorgt. Ende vergangenen Jahres glaubten viele Wissenschaftler, dass in der Stadt im brasilianischen Regenwaldgebiet durch die hohe Infektionsrate bereits eine Herdenimmunität entstanden war. Doch dann stiegen die Fallzahlen erneut an - ein Grund könnte die Resistenz von P.1 gegen die zuvor erzeugte Immunität sein.

Ein weiterer Grund zur Beunruhigung: Wie Untersuchungen zeigen, sind die bestehenden mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna weniger wirksam gegen P.1. Zwar zeigt sich die Variante laut einer Studie nicht so resistent wie jene aus Südafrika, aber widerstandsfähiger als die in Europa verbreitete Variante B.1.1.7. Bisher wird in Brasilien vor allem mit den Impfstoffen von Astrazeneca und dem chinesischen Hersteller Sinovac geimpft. Zumindest zeigt das Astrazeneca-Vakzin auch gegen P.1 Wirksamkeit, wie eine Studie offenbarte.

Doch es ist nicht nur die Variante P.1, die Sorgen bereitet. Die brasilianische Mikrobiologin Natalia Pasternak warnte gegenüber CNN, die "außer Kontrolle" geratene Pandemie in Brasilien werde wohl weitere Varianten hervorbringen. "Mehr Varianten bedeuten, dass es eine größere Wahrscheinlichkeit gibt, dass eine dieser Varianten wirklich allen Impfstoffen entkommt", sagt Pasternak. Dies komme zwar selten vor, könne aber passieren. "Das macht Brasilien zu einer globalen Gefahr, nicht nur für seine Nachbarländer, sondern auch für andere Länder auf der ganzen Welt."

"Freiluftlabor für das Virus"

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Das Problem: Brasilien ist im Kampf gegen die Pandemie derzeit so schlecht aufgestellt wie kaum ein anderes Land. Mit dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro regiert ein Präsident, der das Coronavirus immerzu verharmlost. Zuletzt wollte Bolsonaro sogar Maßnahmen einiger Bundesstaaten zur Eindämmung des Virus kippen - wie etwa Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Begründung: Den Gouverneuren fehle die Kompetenz für diese Entscheidungen.

Auch eine Impfung zieht Bolsonaro in Zweifel und torpediert den Kauf oder die Produktion von Impfstoffen. So hat die landesweite Impfkampagne erst im Januar begonnen und musste immer wieder unterbrochen werden, weil Impfstoff fehlte. Inzwischen wurden in Brasilien zwar mehr als 10 Millionen Menschen geimpft, aber das Land hat 210 Millionen Einwohner. "Brasilien ist ein Freiluftlabor für das Virus, wo es sich vermehren und schließlich weitere tödliche Mutationen hervorbringen kann", kritisiert angesichts der Umstände der Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis gegenüber dem "Guardian". Und er warnt: "Es geht um die ganze Welt. Es ist global."

Quelle: ntv.de

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