Panorama

Wer nicht mithilft, muss gehen "Damit macht es Deutschland Opfern von Menschenhandel sehr schwer"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Zwangsprostitution ist immer noch ein großes Problem in Deutschland - es ist allerdings nicht der einzige Bereich, in dem Menschenhandel stattfindet.

Zwangsprostitution ist immer noch ein großes Problem in Deutschland - es ist allerdings nicht der einzige Bereich, in dem Menschenhandel stattfindet.

(Foto: picture alliance / Frank Duenzl)

Der erste umfassende Bericht zum Thema Menschenhandel in Deutschland liefert erschreckende Zahlen: Tagtäglich werden drei Fälle festgestellt - und die Dunkelziffer dürfte noch weitaus höher sein. So bleibt das Verbrechen sehr oft unsichtbar, erklärt Naile Tanış vom Deutschen Institut für Menschenrechte im Gespräch mit ntv.de. Die Scham der Betroffenen sei ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument der Täter. Wer es schließlich aus der Ausbeutung schafft, stehe nicht selten vor einer weiteren Odyssee - zumindest, wenn er oder sie nicht legal in Deutschland ist. Der Druck, den Behörden umgehend erfolgsversprechende Informationen zu liefern, sei für sie immens. Die Juristin erklärt, wie die deutsche Gesetze viele Betroffene von Menschenhandel in einen Teufelskreis führen.

ntv.de: Frau Tanış, das Ergebnis Ihres Berichts ist ebenso eindeutig wie erschreckend: Menschenhandel gehört auch in Deutschland zum Alltag. In welchen Bereichen werden Menschen hierzulande ausgebeutet?

Naile Tanış (l) und Beate Rudolf bei der Vorstellung des ersten umfassenden Berichts zum Thema Menschenhandel in Deutschland. Tanış leitet die Abteilung der unabhängigen Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

Naile Tanış (l) und Beate Rudolf bei der Vorstellung des ersten umfassenden Berichts zum Thema Menschenhandel in Deutschland. Tanış leitet die Abteilung der unabhängigen Berichterstattungsstelle Menschenhandel des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)

Naile Tanış: Um es kurz zu sagen: In sehr vielen Bereichen. Dass es in der Prostitution und in der fleischverarbeitenden Industrie zu Menschenhandel kommt, dürften viele schon einmal gehört haben. Allerdings kommt es in Deutschland auch in Branchen wie der Pflege, der Landwirtschaft, der Gastronomie und im Baugewerbe zu Ausbeutung. Auffällig ist, dass all diese Bereiche etwas gemein haben: Sie sind personalintensiv und haben geringe Einstellungsvoraussetzungen.

Tatsächlich haben viele der Betroffenen überhaupt keinen Draht nach Deutschland, bevor sie hierzulande ausgebeutet werden. Um ganz am Anfang ihrer Odyssee zu beginnen: Wie kommen diese Menschen ins Land?

Zunächst einmal ist wichtig: Für Menschenhandel braucht es keinen Grenzübertritt. Das heißt, dass natürlich auch Deutsche von Menschenhandel hierzulande betroffen sind. Abgesehen davon sind die Taktiken der Einzeltäter oder Tätergruppen höchst unterschiedlich. Natürlich gibt es die Fälle, in denen Menschen aus dem Ausland gegen ihren Willen nach Deutschland und in die Zwangslage verbracht werden. Allerdings kommen viele auch freiwillig, beispielsweise über ein Visum, weil ihnen etwas Falsches versprochen wird.

Inwiefern?

Da sind oft Vermittlungsagenturen im Spiel. Diese werben mit Annoncen für Arbeitsplätze in Deutschland. Das, was auf diesen Annoncen steht, klingt erst einmal lukrativ und ist vielleicht nicht einmal falsch. Allerdings steht da kein Wort davon, dass die Arbeitszeit 72 Stunden pro Woche beträgt. Das finden die Betroffenen erst heraus, wenn sie hier sind. Ähnlich ist es mit Menschen, denen möglicherweise sogar erzählt wird, dass es bei dem Job in Deutschland um Prostitution geht. Die Art und Weise wird ihnen jedoch komplett verschwiegen. All das finden die Betroffenen erst heraus, wenn es zu spät ist.

Zu spät bedeutet, dass die Betroffenen den Menschenhändlern nicht mehr entkommen können?

Ja. Egal, ob die Betroffenen aus Deutschland kommen, hierher gebracht wurden oder freiwillig eingereist sind - ab einem gewissen Zeitpunkt entsteht immer eine Zwangslage, aus der sie nicht mehr herauskommen. Diese wurde von dem Täter oder der Tätergruppe ganz gezielt kreiert.

Wie sieht diese Zwangslage aus?

Das kann zum Beispiel die Androhung von Gewalt sein. Einigen Betroffenen wird auch physisch die Freiheit genommen, andere werden psychisch unter Druck gesetzt. Zum Beispiel wird ihnen gesagt, dass ihren Familien in dem Herkunftsland etwas angetan wird, wenn sie nicht tun, was ihnen gesagt wird. Es gibt auch Fälle, in denen die Betroffenen - vielleicht wegen falscher Versprechungen - intime Bilder von sich verschickt haben, mit denen sie dann erpresst werden. Vielen wird auch der Pass weggenommen, wodurch sie sich in einem fremden Land natürlich machtlos fühlen. Oder ihnen wird gedroht, sie bei den Behörden zu melden. Das ist ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument in diesem Kontext.

Warum?

Weil die Scham der Betroffenen oft immens ist. Oder aber ihnen wurde die Angst vor Repressalien eingetrichtert. Insbesondere Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus haben Angst, sich den Behörden zu offenbaren. Das alles sorgt dafür, dass Betroffene oft im Verborgenen bleiben. Um es anders zu formulieren: Menschenhandel ist leider in sehr vielen Fällen unsichtbar.

Laut dem Koordinierungskreis gegen Menschenhandel kommen die meisten hierzulande ausgebeuteten Menschen aus Westafrika, vor allem aus Nigeria. Das Lagebild des Bundeskriminalamtes sieht vor allem Deutsche und Osteuropäer als Betroffene von Menschenhandel. Woher kommt dieser Unterschied?

Das hängt zum einen damit zusammen, welche Fälle mit in die Statistik aufgenommen werden. Das BKA zählt zum Beispiel nur Fälle, bei denen die Ausbeutungssituation in Deutschland erfolgt ist. In die Beratung der Fachberatungsstellen kommen hingegen auch viele Betroffene, die auf der Flucht nach Deutschland ausgebeutet wurden. Auch tauchen in den Daten des BKA nur abgeschlossene Ermittlungsverfahren auf. Das heißt in den meisten Fällen, dass die Betroffenen offiziell ausgesagt haben. Allerdings wollen nicht alle, die Hilfe in Fachberatungsstellen suchen, auch mit den Polizeibehörden zusammenarbeiten. Gerade bei Betroffenen aus Drittstaaten gibt es dabei eine besondere Vulnerabilität.

Woran liegt das?

Grundsätzlich haben alle Betroffenen von Menschenhandel in Deutschland ein Recht auf sichere Unterbringung, psychologische Unterstützung und medizinische Versorgung. Allerdings kann diese Leistungsansprüche nur durchsetzen, wer einen Aufenthaltstitel hat, weil Betroffene sonst eine Abschiebung befürchten müssen. Die Betroffenenrechte sind also an das Aufenthaltsrecht geknüpft. Damit haben Betroffene aus Drittstaaten ohne geregelten Aufenthalt einen erheblichen Nachteil.

Aber wer von Menschenhandel betroffen ist, kann nach dem Aufenthaltsgesetz eine Aufenthaltserlaubnis bekommen.

Richtig. Allerdings liegt das Problem im Detail. Denn Betroffene von Menschenhandel erhalten diese Aufenthaltserlaubnis nur, wenn sie sich bereit erklären, offiziell gegen den oder die Verdächtigen auszusagen. Wer sich dagegen entscheidet, möglicherweise aus Angst, bekommt keinen Titel und damit auch nicht die genannten Leistungen. Und auch wenn sich der oder die Betroffene entscheidet, auszusagen, gibt es eine weitere Hürde: Die Aussage muss für das Strafverfahren auch erfolgversprechend sein. Darauf haben die Betroffenen in der Praxis allerdings in sehr vielen Fällen keinen Einfluss. Es kommt zum Beispiel gar nicht erst zum Ermittlungsverfahren, wenn die Verdächtigen nicht auffindbar sind. Es gibt auch Betroffene, denen diese Unsicherheiten zu heikel sind und die dann aus eigenem Wunsch wieder gehen. Im Zweifel fehlt dann später eine wichtige Aussage, um den Täter zu stellen. Vor allem aber ist dieser doppelte Druck gerade für Betroffene kontraproduktiv.

Genau diesen Druck wollte das EU-Recht vermeiden. Laut einer Richtlinie zum Opferschutz steht den Betroffenen aus Drittstaaten eine Erholungs- und Bedenkzeit zu, in der sie versorgt werden, bevor sie sich entscheiden, ob sie mit den Behörden zusammenarbeiten oder nicht. Wie passt das mit der Situation in Deutschland zusammen?

Das ist tatsächlich problematisch. Denn diese Zeit ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für ein mögliches Strafverfahren enorm wichtig. Wer Monate oder Jahre ausgebeutet wurde, braucht erst einmal Zeit, um sich zu erholen und zu stabilisieren. Erst dann kann er oder sie eine fundierte Entscheidung über die eigene Mitwirkung im Strafverfahren treffen. Außerdem ist es wichtig, dass sie als stabile Zeugen auftreten, sollte es zu einem Strafverfahren kommen. Das Problem dabei entsteht nun durch das deutsche Recht: Um den Betroffenen aus Drittstaaten diese Erholungs- und Bedenkzeit zu gewähren, müssen die Ausländerbehörden die Strafverfolgungsbehörden kontaktieren. Diese müssen laut dem Gesetz beteiligt werden. In der Praxis führt das dazu, dass sich die Betroffenen zu einem Zeitpunkt an die Polizei wenden müssen, zu dem sie eigentlich noch darüber befinden sollen, ob sie eine Zusammenarbeit mit der Polizei möchten.

Haben die Betroffenen ohne Aufenthaltsgenehmigung dann überhaupt noch eine Wahl, ob sie mit der Polizei zusammenarbeiten oder nicht?

Wenn sie einen Aufenthaltstitel haben möchten, eher nicht. Denn sobald die Strafverfolgungsbehörden von einem möglichen Verbrechen erfahren, müssen sie von Amts wegen ermitteln. Das tun sie ja, wenn die Ausländerbehörden sie anrufen und von dem Fall berichten. Der Entscheidungsspielraum ist bei den meisten sehr eingeschränkt. Denn wenn sie sich gegen eine Zusammenarbeit entscheiden, werden Strafverfolgungsbehörden gegenüber den Ausländerbehörden keine Anhaltspunkte von Menschenhandel bescheinigen können. Damit gibt es auch keine Grundlage zur Gewährung einer Erholungs- und Bedenkzeit oder eines Aufenthaltstitels aufgrund des Menschenhandels. Dann wird es auch schwieriger, Leistungen für Unterhalt und Lebensunterhalt zu bekommen.

Das klingt stark nach einem Teufelskreis. Wie könnte dieser durchbrochen werden, um die Rechte der Betroffenen zu sichern?

Man müsste die zwingende Verbindung zu den Strafverfolgungsbehörden durchbrechen. Es wäre gut, wenn für die Gewährung der Erholungs- und Bedenkzeit, neben der Polizei auch die spezialisierten Fachberatungsstellen den Nachweis erbringen könnten, dass es sich um eine betroffene Person handelt. Die Fachberatungsstellen, die es gibt, bringen ja die entsprechende Expertise mit. In Niedersachsen gibt es solch eine Regelung schon. Es gab auch in Bezug auf das Aufenthaltsrecht einen guten Vorschlag im Koalitionsvertrag der Regierung. Danach sollte der Aufenthaltstitel von Betroffenen künftig unabhängig von der Kooperationsbereitschaft im Strafverfahren erteilt werden. Allerdings wurde davon bisher nichts umgesetzt. Damit macht es Deutschland den Opfern von Menschenhandel sehr schwer. Zumal Betroffene es in einigen Bundesländern noch schwerer haben als in anderen.

Es hängt vom Bundesland ab, inwiefern den Opfern von Menschenhandel geholfen wird?

Ja, leider. Das liegt auch daran, dass nur 12 von 16 Bundesländern sogenannte Kooperationskonzepte haben. Darin ist zum Beispiel geregelt, wie die Strafverfolgungsbehörden mit den Fachberatungsstellen zusammenarbeiten. Zudem ist die Anzahl und Ausgestaltung der Fachberatungsstellen in den Ländern unterschiedlich. Nicht in allen Bundesländern gibt es ausreichend Fachberatungsstellen und nicht jede dieser Stellen ist für alle Ausbeutungsformen und für jede Altersstufe ausgelegt. Auch sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Behörden nicht überall gleich gut geschult. Das wiederum ist auch wichtig für die Identifizierung von Betroffenen. Kurzum: Für die Unterstützung der Betroffenen von Menschenhandel gibt es in Deutschland keine gemeinsamen Standards, einen sogenannten nationalen Verweisungsmechanismus. Damit hängt es gewissermaßen vom Zufall ab, wie gut Betroffene identifiziert werden und wie gut ihnen geholfen wird.

In Ihrem Bericht fällt auch auf, dass die Zahl der Tatverdächtigen für Menschenhandel deutlich höher ist als die der am Ende Verurteilten. Wie kommt das?

Mehr zum Thema

Ein Grund ist, dass die Straftatbestände im Bereich Menschenhandel sehr komplex sind, sodass die Staatsanwaltschaften teilweise auf andere Tatbestände ausweichen, die leichter nachzuweisen sind. Bei Menschenhandel braucht man eben häufig den Zeuginnen-Beweis und der ist, wie beschrieben, oft schwierig zu kriegen. Zudem ist die Praxis gerade im Bereich Menschenhandel viel schneller als die Theorie. Es kommen zum Beispiel neue Ausbeutungsformen hinzu oder die Täterinnen und Täter agieren anders. Daher braucht es dringend regelmäßige Schulungen für die Justiz. Vor allem aber brauchen wir auch bei den Straftatbeständen wie Menschenhandel Gesetzesreformen. Das ist national bisher allerdings auch noch nicht geschehen.

Mit Naile Tanış sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen