"Mütter mit Babys werden Opfer" Betteln kann brutale Ausbeutung sein


Auch Menschen mit Behinderung werden ausgebeutet.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Zwangsbettelei ist in Deutschland offenbar weiter verbreitet als bekannt. Doch weil die Opfer meistens schweigen, liegen die Strukturen dahinter im Dunkeln. Die Leiterin einer Beratungsstelle nennt Auffälligkeiten, die darauf hinweisen.
Sie begegnen einem in der Fußgängerzone, am Bahnhof oder in der U-Bahn: Menschen in Not, die um Geld bitten. Ein Großteil lebt von der Spendenbereitschaft anderer, doch bei manchen kassieren Hinterleute ab. Die Betroffenen werden zum Betteln gezwungen. "Ausbeutung bei der Ausübung der Bettelei" ist eine Form von Menschenhandel, doch es existieren so gut wie keine belastbaren Zahlen.
Laut dem Lagebild des Bundeskriminalamts gab es im Jahr 2022 lediglich vier Ermittlungsverfahren. Alle vier Opfer waren männlich und rumänische Staatsbürger. Zwangsbettelei sei jedoch kein Randphänomen, sagt Adina Schwartz, Leiterin der Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel Jadwiga in München. Die Dunkelziffer sei hoch. Die Betroffenen kommen Schwartz zufolge vorwiegend aus osteuropäischen Ländern wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien oder Serbien. Häufig seien es entfernte Verwandte, die die Zwangslage von Angehörigen ausnutzten oder ihnen falsche Versprechungen machten. Das Kalkül der Täter: möglichst viel Mitleid erregen.
"Zu den Opfern gehören Mütter mit Kindern, manchmal Babys. Auch Menschen mit Behinderungen werden ausgebeutet", sagt Schwartz im Gespräch mit ntv.de. Es komme vor, dass Kinder absichtlich misshandelt oder verstümmelt werden. Manche Frauen durchlebten mehrere Ausbeutungsverhältnisse. "Sie werden erst sexuell ausgebeutet, dann zu Straftaten gezwungen und müssen schließlich betteln gehen." Betroffen seien allerdings Menschen jeglichen Alters und Geschlechts, betont die Expertin.
"Der Druck auf die Opfer ist groß"
Ein Unterschied zu anderen Formen der Ausbeutung ist, dass Bettelei im öffentlichen Raum stattfindet. Betroffene sind darauf angewiesen, mit Außenstehenden in Kontakt zu treten, um Geld zu bekommen. Ob es sich dabei um "freiwillige" Bettelei aus Armut und mangelnden Alternativen oder um Zwang handelt, ist laut Schwartz schwer zu erkennen.
Ein Merkmal sei die Anwesenheit einer Begleitperson, die sich ins Gespräch mit Passantinnen und Passanten einmischt und Druck ausübt, oder auf Abstand bleibt, überwacht und am Ende des Tages abkassiert. "In letzter Zeit beobachten wir aber, dass die Täter auch oft in den Herkunftsländern bleiben. Der psychologische Druck auf die Opfer ist so groß, dass sie das Geld trotzdem nach Hause schicken und sich keine Hilfe holen", sagt Schwartz.
Ein weiteres Indiz seien Minibusse, die mehrere Leute morgens abliefern und abends wieder einsammeln. Auch Bettelnde, die stundenlang an einer Stelle ausharren, ihre Gebrechen trotz Kälte offen zeigen oder Kinder bei sich haben, seien oft Zwang ausgeliefert. Damit die Opfer keine sozialen Kontakte knüpfen können, karrten die Täter sie von Stadt zu Stadt oder sogar über Landesgrenzen hinweg. Schwartz registriert in ihrer Beratungsstelle eine Zunahme von Fällen der Zwangsbettelei in den vergangenen Jahren. Die Ursachen sind aus ihrer Sicht eindeutig. "Eine große Rolle spielt die ökonomische Lage, die sich in den Herkunftsländern zuletzt verschlechtert hat. Auch der Ukraine-Krieg hat zu Instabilität in der Region beigetragen", so Schwartz.
Täter bleiben oft unerkannt
Nur ein Bruchteil der Betroffenen suche sich Hilfe - aus Angst vor den Tätern, oder dass ihren Familien etwas angetan wird. "Viele können sich zudem gar nicht vorstellen, dass es Unterstützung für sie gibt, wenn sie teils Jahrzehnte keine bekommen haben." Doch ohne Aussteiger bleiben die Täter meistens unerkannt, so Schwartz. "Die Strukturen hinter der Zwangsbettelei wurden leider über Jahre nicht identifiziert, was dazu geführt hat, dass sie stärker geworden sind." Häufig steckten aber Familienclans dahinter, die europaweit vernetzt sind. "Manche kriminelle Gruppen sind auf Zwangsbettelei spezialisiert, andere begehen mehrere Straftaten wie Drogenhandel oder Zwangsprostitution."
Die Leiterin der Beratungsstelle wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Etwa durch eine bundesweite Kampagne, die einerseits die Öffentlichkeit sensibilisiert, andererseits Betroffenen einen Ausweg aufzeigt. Dass das möglich ist, zeigen Beispiele aus ihrem Berufsalltag. "Wir konnten ein Paar aus Ungarn unterstützen. Die Frau wurde sexuell ausgebeutet, der Mann wurde gezwungen, am Münchner Hauptbahnhof zu betteln. Eine Begleitperson hat das Geld abkassiert. Irgendwann hat der Mann einen Passanten angesprochen und um Hilfe gebeten. Der hat die Bundespolizei informiert, die wiederum hat den Täter sofort festgenommen", berichtet Schwartz. Nur leider passiere das viel zu selten.
Quelle: ntv.de