Panorama

Im Garten der Familie Höß Die Spuren der Opfer in der "Zone of Interest"

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Hinter Stacheldrahtzaun und Wachturm liegt die Kommandantenvilla, in der Rudolf Höß mit seiner Familie von 1941 bis 1944 wohnte.

Hinter Stacheldrahtzaun und Wachturm liegt die Kommandantenvilla, in der Rudolf Höß mit seiner Familie von 1941 bis 1944 wohnte.

(Foto: picture alliance / zb)

In Auschwitz wurden bis 1945 mehr als eine Million Menschen ermordet. Direkt am Konzentrationslager lebte die SS, auch die Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß. Was heute noch von der "Zone of Interest" erhalten ist. Beim Rundgang durch den ehemaligen Garten der Familie Höß ist das Leid der Opfer allgegenwärtig.

170 Meter trennen die Villa der Familie Höß und die Gaskammer des anliegenden nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz. Von Mai 1940 an wohnen Rudolf Höß, seine Frau Hedwig und die Kinder Klaus, Ingebrigitt und Hans-Jürgen in der Villa im sogenannten "Interessensgebiet des KZ Auschwitz". 1943 wird Nesthäkchen Annegret geboren.

Vater Rudolf Höß war bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Er ist verantwortlich für die Ermordung von mehr als einer Million Menschen, vor allem Juden. Seit dem gleichnamigen Kinofilm ist vielen das Sperrgebiet um den Lagerkomplex als "Zone of Interest" bekannt. Die Villa und auch der dazugehörige Garten sind bis heute in der Kleinstadt im Süden Polens erhalten.

"Im Haus und auch im Garten durfte das Film-Team des britischen Regisseurs Jonathan Glazer nicht drehen. Aber sie durften vorher das Gelände besichtigen - so wie wir jetzt gleich", sagt die polnische Historikerin Teresa Wontor-Cichy zu Beginn einer Tour.

Graue Häuser und ein Garten

Die Villa gehört nicht zur Gedenkstätte Museum and Memorial Auschwitz-Birkenau, für die Wontor-Cichy seit 1998 arbeitet. Betonmauern sollen die Privatsphäre der polnischen Familie, die heute in dem Haus lebt, schützen. Der Garten jedoch gehört zur Gedenkstätte.

Für die Dreharbeiten konstruierte das Team den Garten als grünes Paradies: Bienenstöcke, üppige Gemüse - und blühende Blumenbeete, eine Terrasse und ein Gartenhaus. "Sie haben den Garten wirklich gut getroffen", sagt die Historikerin. An diesem Nachmittag Anfang Oktober ist er das Ziel der Gruppe um Wontor-Cichy.

19 internationale Journalistinnen und Journalisten haben bereits das ikonische Tor des Lagers mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" passiert, das Gelände des Stammlagers besichtigt und stehen nun vor einer Reihe grauer Gebäude. "Wir befinden uns ein wenig außerhalb des ehemaligen Lagers", sagt Wontor-Cichy.

Foto der US-Luftaufklärung über der polnischen Stadt Auschwitz vom 4. April 1944.

Foto der US-Luftaufklärung über der polnischen Stadt Auschwitz vom 4. April 1944.

(Foto: Wikimedia Commons/Gemeinfrei)

Die Gebäude gehen nahtlos in den Stacheldrahtzaun über, der das Leben der SS und ihrer Angehörigen von dem der Häftlinge hinter dem Zaun trennte. Heute ist die Verwaltung der Gedenkstätte in die Häuserreihe eingezogen.

Der Schmied von Auschwitz

Die Historikerin zeigt auf ein Haus, fast am Ende der Reihe: "Das war die ehemalige Kommandantur." Von hier aus habe Höß das Lager befehligt. Einst wiesen eiserne Großbuchstaben über der Eingangstür auf die Wichtigkeit des Gebäudes in der Lagerhierarchie hin, heute sind nur noch drei Buchstaben übergeblieben: MMA. Die anderen neun Buchstaben werden derzeit restauriert. Hinter den Buchstaben auf dem Gebäude der Täter verbirgt sich die Verfolgungsgeschichte des Schmieds Jan Liwacz.

Das ehemalige Gebäude der "Kommandantur" des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau.

Das ehemalige Gebäude der "Kommandantur" des Lagerkomplexes Auschwitz-Birkenau.

(Foto: Rebecca Wegmann)

1939 wurde Liwacz als Mitglied der Polnischen Sozialistischen Partei von den Deutschen kurz nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen verhaftet. Im Sommer 1940 wurde er mit einem der ersten Transporte nach Auschwitz deportiert. Der gelernte Kunstschmied wurde in das Schlosser-Kommando eingeteilt. Im Auftrag der SS fertigte Liwacz zahlreiche Schmiedearbeiten: Die Buchstaben des Eingangstores und der Kommandantur, eine Lampe für die SS-Kantine und auch das eiserne Tor, das bis heute in den ehemaligen Garten der Familie Höß führt.

Zweimal musste Liwacz mehrere Wochen in Isolationshaft im Bunker des sogenannten "Todesblocks" mit der Nummer 11. Er überlebte den Todesmarsch nach Mauthausen und kehrte 1945 nach seiner Befreiung nach Polen zurück, wo er bis zu seinem Tod 1980 weiter als Kunstschmied arbeitete.

Als die Rote Armee im Januar 1945 immer näher rückte, verbrannte das verbliebene SS-Personal mehr als 90 Prozent der Dokumente, die den Massenmord belegen könnten. Doch zahlreiche Gegenstände, die von Häftlingen im Auftrag der SS gefertigt wurden, entgingen den Flammen. Aus Höß' Büro sind ein Tisch, ein Stuhl, eine Löschwiege und ein Zeitungshalter erhalten. "Es sind alles Gegenstände, die Häftlinge gefertigt haben", sagt die Historikerin.

Rudolf Höß, in "The Zone of Interest" gespielt von Christian Friebel, steht am Tor seines Gartens in Auschwitz und raucht.

Rudolf Höß, in "The Zone of Interest" gespielt von Christian Friebel, steht am Tor seines Gartens in Auschwitz und raucht.

(Foto: IMAGO/Landmark Media)

Nach ungefähr einer halben Stunde, in der die Historikerin vor den Gebäuden über die bis heute erhaltenen Spuren der Häftlinge am Ort des Genozids berichtet und dazu Fotografien herumreicht, steht die Gruppe schließlich vor dem eisernen Gartentor. An dem schwarzen Absperrband davor hält Wontor-Cichy inne. Ab hier ist das Fotografieren verboten.

Durch das eiserne Tor: Ein Garten im Herbst

Hinter dem Tor eröffnet sich den Besuchern der Blick auf einen grünen, teilweise dicht verwucherten Garten. Mitte Oktober sind die Blätter an den Bäumen in einer Ecke des Gartens fast alle noch tiefgrün, nur einige wenige leuchten gelb in der Nachmittagssonne. Bei einem Busch sammelt sich die Gruppe, während Wontor-Cichy bereits die nächste Folie aus dem grünen Ordner zieht.

Bild der Familie Höß, 1943.

Bild der Familie Höß, 1943.

(Foto: Institut für Zeitgeschichte / BA-19914)

Auf mehreren Bildern spielen Kinder im Garten. Ein Foto zeigt, wie Kinder plantschen. "Das ist kein Pool, eigentlich ist es ein Brunnen", sagt die Historikerin und zeigt auf den Brunnen links neben dem Busch. In den Stein am Kopf des Brunnens wollte Höß eigentlich auch ein Hakenkreuz eingravieren lassen, so Wontor-Cichy.

Die zweite Fotografie zeigt den jüngsten Sohn Hans-Jürgen und die mittlere Tochter Ingebrigitt in einem Holz-Auto sitzend. Das Spielauto sowie ein Spiel-Flugzeug wurden in der Lager-Schreinerei von Häftlingen extra für die Höß-Sprösslinge gefertigt, so Wontor-Cichy.

Die Bediensteten im Hause Höß waren Häftlinge: Zwei jüdische Frauen schneiderten die Kleider für die Kinder. Den großen Garten pflegte Stanisław Dubiel. Der polnische Häftling überlebte das Lager und war später wichtiger Zeuge im Prozess gegen Höß.

Die Köchin der Familie Höß

Die Postenkarte von Sophie Stippel.

Die Postenkarte von Sophie Stippel.

(Foto: MARCHIVUM, NL Sophie Stippel, Zug. 29/2016 Nr. 9)

Wieder zieht Wontor-Cichy eine Folie aus dem Ordner: Es ist die Fotografie einer sogenannten Postenkarte, die einer Person Zugang zu verschiedenen Orten in und um das Lager geben sollte. Bis zum Gartentor hat die Gruppe im Oktober mindestens vier Tore dieser ehemaligen Kette passieren müssen.

Auf der rosa Karte steht der Name Sophie Stippel. Seit 1936 war die Zeugin Jehovas aufgrund ihres Glaubens erst im Konzentrationslager Lichtenburg, dann im Konzentrationslager Ravensbrück und ab 1942 schließlich in Auschwitz inhaftiert. Höß stellte die gebürtige Mannheimerin als Köchin ein. Mit der Postenkarte konnte Stippel zwischen der inneren und äußeren SS-Postenkette des Lagers passieren, ein Privileg, das sie nutzte, um anderen Häftlingen zu helfen.

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Stippel überlebte, sprach aber bis zu ihrem Tod nie über Erfahrungen im Lager. Nach ihrem Tod 1985 fanden ihre Erben die Karte gemeinsam mit anderen Dokumenten aus dem Lager in einem kleinen Schuhkarton und schenkten sie dem Marchivum, einem Archiv in Mannheim. Karen Strobel, Mitarbeiterin des Marchivums, schrieb 2018 Stippels Überlebensgeschichte in "Der Kommandant und die Bibelforscherin: Rudolf Höß und Sophie Stippel: Zwei Wege nach Auschwitz" auf.

"Die Familie pflanzte auch Tomaten im Gartenhaus an", sagt Teresa Wontor-Cichy und holt ihre Zuhörer zurück in die Gegenwart des Gartens. Versteckt hinter Ästen und Ranken des Pavillons um die Terrasse steht das Gartenhaus der Familie Höß bis heute unversehrt an Ort und Stelle. Vor über 80 Jahren habe die Familie hier sehr gerne Besuch empfangen, so die Historikerin. Wer alles auf den Gartenstühlen gesessen haben mag, ist unklar. Sicher besuchte Heinrich Himmler, Reichsführer an der Spitze der SS, das Lager.

Ein Ende am Galgen

Rudolf Höß wenige Momente vor seiner Hinrichtung am Galgen.

Rudolf Höß wenige Momente vor seiner Hinrichtung am Galgen.

(Foto: picture alliance / World History Archive)

Immer wieder unterbrechen vorbeifahrende Autos auf der Straße hinter der Gartenmauer die Historikerin. Büsche, Bäume, Brunnen, Gartenhaus, Pavillon und Terrasse auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine Rasenfläche, darüber ragt die graue Betonmauer, die den Blick auf das Höß-Haus verbirgt.

Am Ende des Besuchs und auch der Chronologie der Geschichte angekommen, erzählt Wontor-Cichy schließlich davon, wie Höß nach dem Krieg von seiner Frau verraten, gefasst und zum Tode verurteilt wurde. Am 16. April 1947 wurde Rudolf Höß im Stammlager Auschwitz hingerichtet. Sein Galgen steht bis heute auf dem Gelände der Gedenkstätte.

"Ich habe mir den Garten anders vorgestellt", sagt ein Teilnehmer. Dann verlässt die Gruppe nach und nach den eingemauerten Garten durch die Schmiedearbeit von Liwacz.

Dieser Artikel ist im Rahmen eines Seminars der Gedenkstätte Museum and Memorial Auschwitz-Birkenau entstanden. Die Tour durch den ehemaligen Garten der Familie Höß bietet die Gedenkstätte in unregelmäßigen Abständen ausgewählten Gruppen an.

Quelle: ntv.de

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