Niedriger Amazonas, kaum Fische Dürre bedroht indigene Völker in Kolumbien
28.10.2024, 10:11 Uhr Artikel anhören
Am Amazonas nahe Leticia sind die Anzeichen der Dürre nicht zu übersehen.
(Foto: AP)
Die Pegel des Amazonas und viele seiner Nebenflüsse erreichen historische Tiefstände. Für die Menschen, die direkt von diesem Wasser abhängig sind, ist das eine existenzielle Bedrohung. Hilfslieferungen der kolumbianischen Behörden reichen oft nicht aus.
Marciano Flores steht knietief im Amazonas. Gemeinsam mit weiteren Fischern hält er sich bereit, ein Netz einzuholen. Ein Mann in einem Kanu versucht, möglichst viele Fische in ihre Richtung zu treiben. Flores kennt den Fluss sehr gut. Der 69-Jährige hat sein Leben lang darin gefischt. Normalerweise kann er auf einen Blick sagen, ob eine Stelle einen Fang hergeben wird, der sich auf dem Markt verkaufen lässt.
In diesem Jahr ist jedoch alles anders. Dort, wo er gerade steht, hätte er vor einem Jahr nicht stehen können - das Wasser hätte ihm bis weit über den Kopf gereicht. Er kann sich nicht erinnern, den Amazonas je so ausgetrocknet gesehen zu haben. Und das hat unmittelbare Folgen - für ihn und die anderen Männer sowie für deren Familien. Das Netz bleibt weitgehend leer.
Die Fischer haben keine andere Wahl, als immer weiter flussabwärts zu fahren. Die Motoren ihrer kleinen Boote verbrauchen dabei viel mehr teures Benzin als sonst. Trotzdem ist die Ausbeute oft dürftig. An diesem Tag fangen sie wieder nur sehr wenige und eher kleine Fische.
Stundenlange Fußmärsche für Wasser
"Die Dürre hat mich hart getroffen", sagt Flores, der zu dem indigenen Volk Kokama gehört. "Wenn das Wasser so niedrig ist, sterben die Fische, also gibt es nichts zu holen." Dass der Wasserspiegel des Amazonas je nach Jahreszeit schwankt, ist normal. Seit dem vergangenen Jahr ist er allerdings deutlich stärker gefallen als sonst. Besonders gravierend sind die Auswirkungen schon seit einiger Zeit in Brasilien. Nun macht sich das Phänomen zunehmend auch in den anderen Ländern, die am Amazonas oder an dessen Nebenflüssen liegen, bemerkbar. Weil die Ströme in der Region die wichtigsten Verkehrsadern sind, leidet auch die Wirtschaft. Zum Teil ist sogar die Versorgung mit Nahrung beeinträchtigt.
In Kolumbien trifft die Entwicklung vor allem abgelegene Dörfer von indigenen Völkern, die Regen- und Flusswasser zum Überleben brauchen. Zum Teil müssen die Bewohner und Bewohnerinnen stundenlange Fußmärsche in Kauf nehmen, um Lebensmittel und Trinkwasser zu beschaffen. In einigen Gebieten müssen Kinder bis zu zwei Stunden zur Schule laufen, weil Boote nicht mehr fahren können.
Die Katastrophenschutzbehörde des Landes erklärte im September, die Wasserspiegel seien innerhalb der zurückliegenden paar Monate um 80 bis 90 Prozent gefallen. "Ich mache mir große Sorgen, vor allem um die indigenen Gemeinschaften, die besonders stark betroffen sind, weil alle Lebensmittel bereits verbraucht sind", sagt Álvaro Sarmiento, der am Flusshafen der Stadt Leticia die Maßnahmen für den Zivilschutz koordiniert. "Für die indigenen Völker ist der Fischfang die wichtigste Nahrungsquelle."
Flüsse werden zu sandigen Flächen
Entlang der Ufer sind dort, wo sonst das Wasser steht, inzwischen riesige sandige Flächen zu sehen. "In den 35 Jahren, die ich im Amazonas-Gebiet verbracht habe, ist es das erste Mal, dass ich einen solch niedrigen Wasserstand erlebe", sagt Jugalvis Valencia, der in der kolumbianischen Amazonas-Stadt mit Bootstouren sein Geld verdient. Falls es einen weiteren derart trockenen Sommer geben sollte, würde das Wasser womöglich so weit sinken, dass Leticia von der Außenwelt abgeschnitten wäre, sagt der 61-Jährige.
Auch im Stadtgebiet macht die Dürre den Menschen schon jetzt zu schaffen. "Wir baden im Fluss, aber zum Kochen und Trinken müssen wir auf Regenwasser warten. Und wenn es keines gibt, müssen wir Wasser in Leticia kaufen. Das stelle man sich mal vor!", sagt Ermencida Miranda, die in dem Vorort La Playa in ihrem auf Stelzen gestützten Haus einen kleinen Laden betreibt. "Die Dürre ist wirklich gravierend", betont die 48-Jährige, die zu dem indigenen Volk Tikuna gehört.
Gut 30 Kilometer stromabwärts liegt das Gebiet Santa Sofia, in dem etwa 2400 Angehörige von fünf verschiedenen indigenen Gruppen leben. Im Schatten von Mango-Bäumen warten dort einige Bewohner und Bewohnerinnen auf eine Nahrungslieferung von einer Hilfsorganisation. Im vergangenen Jahr standen jene Mango-Bäume direkt am Ufer. Aktuell muss man von dort ganze fünf Minuten laufen, um zum Wasser zu kommen. Wegen der Dürre sei es nicht nur schwierig, Nahrung zu besorgen, sondern auch eigene Ernte zum Verkauf nach Leticia zu bringen, sagt der 47-jährige Elder Kawache. Seinem Dorf mache aber vor allem zu schaffen, dass auch der örtliche Brunnen ausgetrocknet sei.
Pumpen und unterirdische Wasserquellen
Die kolumbianischen Behörden haben angekündigt, motorisierte Pumpen und Schläuche für die Wasserversorgung in isolierten Gebieten bereitzustellen. Außerdem soll zeitnah eine Erkundung von unterirdischen Wasserquellen in die Wege geleitet werden. Parallel werde humanitäre Hilfe in Form von Trinkwasser und nicht verderblichen Lebensmitteln in die betroffenen Regionen geliefert, hieß es jüngst.
In den vergangenen Tagen ist der Wasserspiegel des Amazonas in Leticia, das an einem Dreiländereck zwischen Kolumbien, Peru und Brasilien liegt, zwar wieder ganz leicht gestiegen. Doch angesichts der immer schwerwiegenderen Dürreperioden spüren die Bewohner und Bewohnerinnen deswegen kaum Erleichterung. Die Ladenbetreiberin Miranda hat laut eigenen Angaben bisher auch keine Unterstützung von den Behörden bekommen. Sie würde sich etwa einen Hochbehälter als Speicher wünschen - damit die Leute nicht mehr "beim Tragen des Wassers so viel leiden" müssten. "Wasser ist für uns sehr wichtig", betont sie.
Quelle: ntv.de, Steven Grattan, AP