"Bodenlose Schweinerei" Ermittler bringen Orlandis Onkel ins Spiel


Emanuela Orlandi verschwand vor 40 Jahren.
(Foto: AP)
Papst Franziskus verspricht Anfang des Jahres der Familie Orlandi eine lückenlose Aufklärung des Verschwindens der 15-jährigen Emanuela vor 40 Jahren. Jetzt kommen Zweifel auf, ob es wirklich so sein wird. Grund ist eine angebliche Spur, die ein Familienmitglied belastet.
Als Papst Franziskus Anfang des Jahres ankündigte, die Wahrheit über das bis heute nicht geklärte Verschwinden der 15-jährigen Emanuela Orlandi vor 40 Jahren ans Licht bringen zu wollen, atmete nicht nur die Familie der Verschwundenen auf. Der Fall Orlandi gehört zu den unheimlichsten Italiens und war Inspiration für die vierteilige Netflix-Serie "Vatican Girl".
Keine sieben Monate nach Franziskus Ankündigung zeigt sich jedoch, dass anstatt der Lichtblicke weitere Schatten hinzukommen. Vor zwei Tagen sorgte die von einem Privatsender ausgestrahlte Nachricht, die Ermittler würden jetzt eine neue Spur verfolgen, für Aufsehen. Bei der Spur handelt es sich um den inzwischen verstorbenen Mario Meneguzzi, ein Onkel der fünf Orlandi-Kinder väterlicherseits. Anhand von Dokumenten, die bis jetzt im Tresor des vatikanischen Staatssekretariats verschlossen geblieben seien, soll sich ergeben, dass Emanuelas ältere Schwester Natalina von Meneguzzi sexuell genötigt worden sein soll. Danach habe er sie mit Drohungen zum Schweigen gezwungen, soll sie in einer Beichte berichtet haben. Der Vorfall ereignete sich angeblich 1978, also fünf Jahre vor dem Verschwinden von Emanuela.
Die damals 15-jährige Tochter eines Vatikan-Angestellten verschwand am 22. Juni 1983. Sie hatte in der Nähe der Basilika Sant'Appollinare Musikunterricht gehabt und war auf dem Weg nach Hause. Zwei Ermittlungsverfahren wurden in die Wege geleitet, beide wurden wegen Mangel an Beweisen eingestellt.
Empörung und Entsetzen bei Familie
Gerüchte über einen eventuellen Fall von Pädophilie im Vatikan, dem Emanuela zum Opfer gefallen sein könnte, wurden immer wieder verbreitet. Der Vatikanstaat, sowohl unter Papst Paul Johannes II. als auch später unter seinem Nachfolger Benedikt XVI., verweigerten jedoch jegliche Zusammenarbeit mit der römischen Staatsanwaltschaft.
Mit den "vorbehaltslosen" Ermittlungen, wie Franziskus sie bezeichnet hatte, wurde der Strafverfolger Alessandro Diddi vom Vatikan beauftragt. Im Mai verkündete dann die römische Staatsanwaltschaft, auch sie werde die Ermittlungen unter der Führung von Staatsanwalt Francesco Lo Voi aufnehmen und diesmal werde es auch eine enge Zusammenarbeit mit dem Vatikan geben.
Die Familie Orlandi schöpfte Hoffnung, vor allem Emanuelas Bruder Pietro, der sich nie damit abgefunden hat, das Verschwinden seiner Schwester als ungelöstes Mysterium ad acta zu legen. Dass der Vatikan es diesmal ernst meinte, schien Pietro Orlandi auch dadurch bewiesen, dass ihn der Vatikanbeauftragte Diddi Anfang April zu sich bat und das Treffen über drei Stunden dauerte.
Umso entsetzter war er deshalb am Montagabend, als er den TV-Bericht sah, über den man ihn erst kurz vor der Ausstrahlung informiert hatte. In diesem wurde erzählt, der Onkel habe 1978 seine damals 21-jährige Nichte Natalina sexuell genötigt. Natalina sei schockiert gewesen und habe sich ihrem Seelsorger anvertraut. Im Bericht hieß es weiter, einige Monate nach Emanuelas Verschwinden soll der damalige Generalstaatssekretär Agostino Casaroli diesen Seelsorger, der mittlerweile in Kolumbien lebte, per diplomatischer Post gefragt haben, ob die Geschichte der Nötigungen stimme. Die Antwort soll Ja gewesen sein. Wenige Monate nach dem Verschwinden ihrer Schwester wurde Natalina auch vom damaligen Staatsanwalt befragt. Nicht nur der Onkel, auch diese beiden Personen sind mittlerweile gestorben.
Als angeblichen Beweis zeigte der TV-Bericht den Vergleich zwischen dem Phantombild eines Mannes, mit dem Emanuela am Abend ihres Verschwindens noch gesehen worden war, und einem Foto des Onkels. Beide Bilder wiesen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander auf.
Die Orlandis waren über den Bericht zutiefst schockiert und beriefen Dienstagnachmittag eine Konferenz bei der Auslandspresse in Rom ein. An dieser nahmen neben Pietro Orlandi auch die Schwester Natalina und die Rechtsanwältin der Familie Laura Sgrò teil.
"Eine bodenlose Schweinerei"
Die Erste, die bei der Konferenz das Wort ergriff, war Natalina, um die Geschehnisse, also die Avancen des Onkels vor 45 Jahren, klarzustellen. "In der Sendung wurde von sexuellen Avancen berichtet, davon kann aber keine Rede sein. Es waren nur verbale Anspielungen, die ich entschieden zurückwies." Freilich sei sie damals schockiert gewesen, habe deswegen gleich mit ihrem Freund, der heute ihr Ehemann ist, gesprochen und sich ihrem Seelsorger anvertraut. Auf die Frage der Journalisten, ob der Rest der Familie, in erster Linie ihr Vater, von den Avancen des Bruders wusste, antwortete sie: "Nein. Mein Vater und er hatten ein sehr enges Verhältnis. Das wäre ein unglaublicher Schlag für ihn gewesen." Außerdem waren sie und ihr Freund dem Onkel so entschieden gegenübergetreten, dass dieser jeden weiteren Versuch unterließ.
Ihr Bruder Pietro nannte diese "Enthüllung", die gar keine war, eine "bodenlose Schweinerei". Natalina sei längst zu ihrem Onkel befragt worden. Außerdem sei dieser erwiesenermaßen am Tag von Emanuelas Verschwinden ganz woanders gewesen, wie auch die Ermittler damals feststellten. Das Phantombild könne also nicht ihn darstellen. "Die wollen die Schuld auf die Familie schieben. Von wegen lückenlose Aufklärung." Mit "die" ist wieder der Vatikan gemeint beziehungsweise gewisse Kreise, die dem TV-Sender La7 auch diese Dokumente zugespielt hätten. Dafür könnten aus Sicht von Pietro Orlandi auch der Vatikanermittler Diddi sowie der römische Staatsanwalt Lo Voi infrage kommen.
Quelle: ntv.de