Panorama

Die Bestie ist eine Illusion Familienväter als Täter - das Böse wird oft verdrängt

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Der nette ältere Herr: So sieht für die Wenigsten ein Mensch aus, der anderen Leid antut.

Der nette ältere Herr: So sieht für die Wenigsten ein Mensch aus, der anderen Leid antut.

(Foto: AFP)

Das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit steht in Frankreich ein Familienvater für schwere Missbrauchstaten vor Gericht. Das Entsetzen ist groß und basiert doch vor allem auf Fehlannahmen, wie das Böse ist.

Das zweite Mal innerhalb nur eines Jahres erlebt Frankreich einen Prozess, der Menschen weltweit schaudern lässt. Nach dem Verfahren in Avignon gegen Dominique Pelicot, der seine Frau bewusstlos machte und dann anderen Männern zur Vergewaltigung anbot, steht diesmal Joël Le Scouarnec in Vannes vor Gericht. In dem Verfahren gegen den früheren Chirurgen geht es um einen der größten Fälle von Kindesmissbrauch in der französischen Geschichte. Noch ist er nicht verurteilt.

Der österreichische Kriminalpsychologe Thomas Müller hat das Entsetzen nach der Aufdeckung komplexer Verbrechen schon vor Jahren in seinem Buch "Bestie Mensch" beschrieben. Auf absolutes Unverständnis, wie der nette Nachbar oder Familienvater von nebenan diese Taten hat begehen können, folgten regelmäßig Stimmen, die der angeklagten Person schon immer etwas Ungeheuerliches zugetraut haben wollen. "Was sagt aber nun dieser allgemeine Wandel?", fragt Müller. "Nichts anderes, als dass wir unfähig sind, nach außen hin zu erkennen, was jemand in der Lage ist zu tun oder auch nicht."

Le Scouarnec wird beschuldigt, über einen Zeitraum von fast 30 Jahren Kinder oft unter Narkose oder kurz nach dem Aufwachen sexuell missbraucht zu haben. Das Durchschnittsalter der Opfer lag bei elf Jahren. Der 74-Jährige muss sich wegen des Missbrauchs von 299 Patienten vor Gericht verantworten. Seine Taten waren ans Licht gekommen, als die Ermittler bei einer Hausdurchsuchung im Zuge eines anderen Verfahrens auf Tagebuchaufzeichnungen des Arztes stießen. Als er festgenommen wurde, war Le Scouarnec 41 Jahre verheiratet. Danach ließ sich seine Frau, mit der er zwei gemeinsame Kinder hat, scheiden.

Ahnungslose Familien

Der jüngste Sohn des Angeklagten Le Scouarnec beschrieb seine Familie in dem Prozess gegen seinen Vater als "normal". Er habe von den "abscheulichen Taten", die der frühere Chirurg gestanden hat, nichts mitbekommen, sagte der 37-Jährige. "Ich habe davon erfahren, als er 2017 festgenommen wurde", sagte er. Seine Kindheit habe er als glücklich erlebt. Sein Vater sei immer für ihn dagewesen. "Ich habe eine gute Erinnerung an meinen Vater", so der Sohn. Dies sei auch der Grund, warum er seit 2017 keinen Kontakt mehr zu seinem Vater haben wollte. "Ich wollte dieses Bild von ihm bewahren."

Auch Caroline Darian beschreibt in ihrem Buch mit dem bezeichnenden Titel "Und ich werde Dich nie wieder Papa nennen", wie ihre glücklichen Kindheitserinnerungen plötzlich zerbrachen: "In einer Sekunde ist mein Leben auf schwindelerregende Weise ins Wanken geraten." Sie ringt damit, wie der fürsorgliche Vater ihrer Kindheit zu solch grausamen Taten fähig war und dass ihr Urteilsvermögen so versagt hat. "Ich habe ihn so sehr geliebt damals, bevor ich erfuhr, was für ungeheuerliche Dinge er getan hat", schreibt die Tochter.

Pelicot und seine Frau Gisèle waren mit einer Unterbrechung sogar 48 Jahre verheiratet, sie haben drei gemeinsame Kinder. In dem Prozess gegen den 72-Jährigen gab es starke Verdachtsmomente, dass er auch seine Tochter und seine Schwiegertöchter sediert und sexuell missbraucht hat. Inzwischen hat Darian Klage gegen ihn eingereicht. Pelicot war verhaftet worden, nachdem ihn zwei Frauen angezeigt hatten, denen er unter den Rock fotografiert hatte. Bei den Ermittlungen fanden die Behörden auf seinem Computer zahlreiche Fotos und Videos von den Übergriffen, für die er schließlich verurteilt wurde. Gisèle Pelicot war zu diesem Zeitpunkt sicher, einen treusorgenden, liebenden Ehemann an ihrer Seite zu haben.

Für die Kriminalpsychologin Lydia Benecke ist das eine Bestätigung dessen, was sie immer wieder in ihrer Arbeit mit Menschen, die Sexual- und Gewaltstraftaten begangen haben, erlebt. "Dass eine Familie völlig erschüttert, überrascht und ahnungslos ist, wenn sie mit einer solchen Tatsache konfrontiert wird, ist nicht gerade selten", sagt Benecke ntv.de.

Das Böse wird übersehen

Die mittlerweile geschiedene Frau von Le Scouarnec wird von manchen der Nebenkläger verdächtigt, ihren Mann zeitweise gedeckt zu haben. Sie bestritt das in ihrer Aussage. "Es gab nichts, was darauf hingewiesen hätte, nichts und wieder nichts", sagte die 71-Jährige vor Gericht in Vannes. "Ich habe nie die leiseste Ahnung gehabt." Auf die Frage, warum sie nichts bemerkt habe, antwortete sie, dass sie "keinen Blick für das Böse" habe.

Für Benecke zeigt das eine mögliche kognitive Verzerrung der betroffenen Angehörigen. Manchmal seien sie mit unterschiedlichen problematischen Persönlichkeitsanteilen von Tätern schon konfrontiert gewesen, hätten diese aber völlig anders interpretiert. Dabei handele es sich um den sogenannten Bestätigungsfehler. "Wenn ein Mensch eine emotional besonders relevante Annahme hat, dann werden alle Informationen, die etwas mit dieser Annahme zu tun haben, völlig unbewusst automatisiert so wahrgenommen und verarbeitet, dass die Annahme stabil bleibt. Informationen, die dieser Annahme widersprechen, werden entweder relativiert oder nicht so stark wahrgenommen."

Pelicot hatte beispielsweise seine Familie immer wieder in finanzielle Schwierigkeiten gebracht und auch von seinen Kindern mehrfach Geld geliehen. Trotzdem hatte ihn Darian als fürsorglich und unterstützend wahrgenommen. Erst durch die Ermittlungen und die spätere Verurteilung änderte sich ihre Bewertung dieser Eigenschaften.

In den beiden Fällen in Frankreich sind die Familien auf Abstand gegangen, aber auch das ist nicht immer der Fall. Manchmal versuchten Familien auch, das "positive Bild dieser Personen weiter aufrechtzuerhalten, trotz der Erkenntnis, dass diese Person nun tatsächlich verurteilt wird", sagt Benecke. Dann würden externe Gründe für die Verhaltensweisen der Personen gesucht. "In dem Sinne würde also dann der Bestätigungsfehler auch nach der Aufdeckung in solchen Konstellationen weiterwirken." An dieser Stelle kommt der zweite Irrtum ins Spiel, den auch Thomas Müller nennt: "Die Annahme, dass das Böse sehr weit weg ist." Benecke verweist darauf, dass die meisten Sexualstraftaten im nahen sozialen Umfeld begangen werden. Trotzdem könnten sich kaum Menschen aufgrund der eigenen Verbindung zu einer Person vorstellen, dass jemand dazu in der Lage ist, weil kaum jemand den Klischeevorstellungen eines Straftäters entspricht.

Le Scouarnec arbeitete in zwölf verschiedenen Krankenhäusern im Westen Frankreichs. Obwohl manche seiner Chefs und Kollegen wussten, dass er bereits früher wegen Kinderpornografie verurteilt worden war, behinderte dies nicht seine Karriere. Parallel führte er detaillierte Tagebücher über seine Taten, insgesamt fanden die Ermittlerinnen und Ermittler 1655 Seiten, außerdem Sexspielzeug, Sexpuppen in Kindergröße und etwa 300.000 Fotos mit kinderpornografischen Inhalten. Vor dem jetzigen Prozess wurde er 2020 wegen sexueller Vergehen an vier Mädchen zu 15 Jahren Haft verurteilt. Bei den Opfern handelte es sich um zwei seiner Nichten, ein Nachbarsmädchen und eine vierjährige Patientin.

Keine Einzelfälle

Selbst die Ungeheuerlichkeit der Fälle ist längst nicht so einzigartig, wie viele jetzt denken könnten. 2020 wurde in Großbritannien Reynhard Sinaga zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Doktorand steht in dem Ruf, der "schlimmste Serienvergewaltiger Großbritanniens" zu sein. Er soll über zehn Jahre hinweg bis zu 195 Männer betäubt und sexuell missbraucht haben.

Sinaga sprach nachts betrunkene Männer an, bot ihnen einen Schlafplatz an und verabreichte ihnen vermutlich die Droge GHB. Er behauptete, der Sex mit den Männern sei einvernehmlich, "behutsam, liebevoll und sensibel" gewesen und er habe die Männer nur nicht aufwecken wollen. Die Verbrechen kamen ans Licht, als eines seiner Opfer während eines Übergriffs aufwachte und sich wehrte.

In Deutschland wurde 2020 der Arzt Philipp G. festgenommen, der im Evangelischen Klinikum Bethel in Bielefeld seit 2018 mindestens 30 Patientinnen mit dem Narkosemittel Propofol betäubt hatte, um sie anschließend zu vergewaltigen. Von den Verbrechen existieren mehr als 200 Videodateien. G. wurde nicht verurteilt, er beging in der Untersuchungshaft Suizid.

Quelle: ntv.de

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