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Humanitäre Katastrophen 2024 "Was im Sudan passiert, übersteigt unsere Vorstellungskraft"

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Mehr als die Hälfte der Menschen im Sudan, weiß nicht, ob sie morgen etwas zum Essen haben wird.

Mehr als die Hälfte der Menschen im Sudan, weiß nicht, ob sie morgen etwas zum Essen haben wird.

(Foto: REUTERS)

Die Zahl der Menschen, die auf lebensrettende Unterstützung angewiesen sind, hat sich innerhalb weniger Jahre fast vervierfacht. Christof Johnen vom DRK berichtet über die Hürden seiner Arbeit - und die größte Katastrophe der Welt, die sich im Schatten der Öffentlichkeit abspielt.

"Die Welt steht in Flammen", betonte UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher Anfang des Monats in Genf. Denn: Mehr als 300 Millionen Menschen sind auf lebensrettende Unterstützung angewiesen. Das sind fast fünf Prozent der gesamten Menschheit. Besonders gravierend wird es 2025, wie bereits in diesem Jahr, im Sudan, in den palästinensischen Gebieten, in Myanmar, Syrien und dem Südsudan. Die fünf von Kriegen und Konflikten ausgezehrten Länder führen die traurige Liste der humanitären Krisenländer des International Rescue Committee (IRC) an. Zu den 20 aufgeführten Krisenregionen gehören demnach vor allem afrikanische Länder, unter ihnen etwa Mali und Somalia. Aber auch in Staaten wie Afghanistan und in der Ukraine ist das humanitäre Leid enorm groß.

Mit den jüngst vorgestellten Zahlen zeigt sich eine dramatische Entwicklung: Die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, hat sich im Vergleich zu 2015 fast vervierfacht. Verantwortlich für diese Verschlimmerung sind laut dem IRC etwa die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, die stärkeren und häufigeren Folgen des Klimawandels bei geringerer Unterstützung - und die deutliche Zunahme bewaffneter Konflikte." Anfang des Jahrtausends haben wir 20 bewaffnete Konflikte auf der Welt gezählt", erklärt Christof Johnen vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) im Gespräch mit ntv.de. "Diese Zahl hat sich versechsfacht, denn mittlerweile zählen wir 120."

Zudem werden die Konflikte komplexer, "sie dauern in der Regel länger an", fährt Johnen fort. Zu Lasten der Menschen: "Denn die Zivilbevölkerung ist im Regelfall immer das erste Opfer. "Was das konkret bedeutet, wie gravierend die Einschnitte im Alltag der Betroffenen sind und wie schwer es mitunter ist, ihnen zu helfen, erklärt der Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des DRK am Beispiel von drei Krisenregionen.

Sudan - "Nur noch Gras zum Essen"

"Was im Sudan passiert, übersteigt unsere Vorstellungskraft", sagt Johnen. Laut dem IRC ist die Not in keinem anderen Land der Welt größer. Demnach steuert der Sudan 2025 auf einen verheerenden humanitären Zusammenbruch zu. Seitdem der Machtkampf zwischen der sudanesischen Armee und der Miliz RSF im April 2023 eskaliert ist, wird das Land im Bürgerkrieg aufgerieben. Die Folge: 26 Millionen der knapp 50 Millionen Einwohner leben in akuter Ernährungsunsicherheit. "Das bedeutet, dass ein Großteil der Menschen schlicht nicht weiß, ob und was sie morgen essen werden", erklärt Johnen. Auch Mohamed Abdiladif von der Hilfsorganisation "Save the children" sagte im Gespräch mit der Tagesschau, dass sich viele Familien auf eine Mahlzeit pro Tag beschränken müssen. "Es gibt aber auch Berichte über Familien, die nur noch Gras zum Essen haben."

Mit den Kampfhandlungen ist die Produktion im Land massiv eingebrochen. "Denn wo gekämpft wird, können sie keine Landwirtschaft betreiben. Sie können die Saat nicht ausbringen und die Ernte nicht einbringen." Teilweise habe es auch gezielte Angriffe auf die Landwirtschaft gegeben. Produktionsfelder wurden zu Orten des bewaffneten Konflikts. Zudem sind die Märkte beeinträchtigt, erklärt Johnen weiter. "Das bedeutet, es gibt weniger und das, was noch da ist, wird verknappt und dementsprechend teuer."

Lebensrettende Unterstützung aus dem Ausland ist daher essenziell. 30 Millionen Sudanesinnen und Sudanesen sind auf sie angewiesen. Allerdings fällt das internationale Interesse - im Vergleich zu anderen Krisen - gering aus. Immer wieder wird die humanitäre Katastrophe als "vergessene Krise" betitelt. "Die größte humanitäre Notlage der Welt findet im Schatten der Öffentlichkeit statt", fasst es Johnen zusammen.

Doch auch wenn die benötigte Hilfe zusammenkommen würde, stünde die ausreichende Versorgung der Bevölkerung in den Sternen. Denn die Konfliktparteien blockieren den Zugang zu den Menschen. "Wir können den betroffenen Menschen nur in sehr, sehr eingeschränktem Maße helfen", so Johnen. Die rivalisierenden Parteien würden die Durchfahrt zu den Menschen oft nicht gewähren. "Oder die Hilfskonvois selbst werden angegriffen." Das macht es für Helfende im Land sehr gefährlich - und führt dazu, "dass die Versorgung der Menschen bei Weitem nicht ausreicht".

Der Konflikt im Sudan hat sich vor diesem Hintergrund längst zur größten Vertreibungskrise der Welt entwickelt. Seit April 2023 sind weit mehr als 10 Millionen Menschen aus ihrem zu Hause vertrieben worden. Ein Großteil ist innerhalb des Sudans geflüchtet. Mehrere Millionen seien aber auch in Nachbarländer geflohen, sagt Johnen. "Dabei ist Ägypten sicherlich noch eins der Ziele mit einer, relativ betrachtet, besseren ökonomischen und sichereren Lage." So haben auch der Tschad und der Südsudan viele Sudanesinnen und Sudanesen aufgenommen - Länder, die zu den ärmsten der Welt zählen. Auch Äthiopien gehöre zu den Aufnahmeländern, "obwohl es auch dort bewaffnete Konflikte gibt". Die deutliche Mehrheit bleibe also in der Region, sagt Johnen. "Das heißt aber auch, dass es eine große Instabilität und wenig Perspektive auf schnelle Besserung gibt."

Dies sollten auch Länder im Hinterkopf haben, die von jenen Krisenregionen in Ost- und Zentralafrika zumindest örtlich weit entfernt sind, heißt es vom IRC. "Aus strategischen Gründen gilt zu bedenken, dass Probleme zwar im Sudan oder in Syrien beginnen, aber dort nicht bleiben: Instabilität breitet sich aus."

Palästinensische Gebiete - Kollaps der öffentlichen Ordnung

Im Gegensatz zur Krise im Sudan findet das Geschehen in den palästinensischen Gebieten im Lichte der Öffentlichkeit statt. Regelmäßig wird zumindest über den Krieg zwischen Israel und der Hamas sowie die enormen Fluchtbewegungen innerhalb der Region berichtet. Doch was bedeutet es konkret, wenn rund zwei Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser auf einem so eng besiedelten Gebiet wie dem Gazastreifen Schutz suchen? "Es bedeutet, dass zwei Millionen Menschen auf einer Fläche leben, die gerade mal ein Viertel so groß ist wie das Gebiet, auf dem sie vorher bereits unter engen Verhältnissen lebten", sagt Johnen. Denn für mehr als 75 Prozent der Fläche des Gazastreifens bestehen Evakuierungsaufforderungen durch die israelischen Behörden.

Zudem droht Gaza laut dem IRC im kommenden Jahr die Hungersnot. Schon jetzt seien nahezu alle Bewohnerinnen und Bewohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dabei fehle es am Grundlegendsten wie Wasser, Lebensmittel, Schutz vor Kälte und Regen, Hygieneartikel oder Reinigungsmittel. "Seit der Eskalation des bewaffneten Konflikts hat es keine einzige Phase gegeben, in der die humanitäre Versorgung ausreichend war", sagt Johnen. Das Problem bestehe bereits darin, die Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bekommen. Zu Beginn des bewaffneten Konflikts waren alle Grenzen geschlossen. Als Ende Oktober 2023 schließlich zwei Grenzübergänge für humanitäre Hilfe geöffnet wurden, "hat es immerhin Wochen gegeben, in denen täglich 150 bis 200 LKW die Grenze passieren konnten". Vor dem Konflikt waren es allerdings rund 500 LKW pro Tag. Im Mai dieses Jahres verschlechterte sich die Lage erneut: Die Kämpfe verlagerten sich nach Rafah - der dortige Grenzübergang wurde wieder geschlossen. "Seitdem kommt noch viel weniger Hilfe ins Land."

Schlimmer macht es noch, so Johnen, "dass die öffentliche Ordnung im Gazastreifen mittlerweile zusammengebrochen ist". Die Bilder von verzweifelten Menschen, die Transporter mit Hilfsgütern plündern, gehen um die Welt. "Wenn es keine öffentliche Ordnung mehr gibt, kommt die Hilfe nicht mehr den Schwächsten, also jenen, die es am dringendsten brauchen, zugute, sondern den Stärksten."

Schließlich konnte auch das Gesundheitswesen der Dauerbelastung nicht standhalten. So gut wie die gesamte Bevölkerung Gazas lebt seit Monaten auf engstem Raum und inmitten von Kampfhandlungen. Zu vielen, teils schweren, Verletzungen kommt damit die Ausbreitung von Durchfall- und Atemwegserkrankungen, berichtet Johnen. "Es benötigen also viel mehr Menschen eine medizinische Behandlung. Gleichzeitig sind die Kapazitäten der Gesundheitsversorgung geschrumpft." Von den 36 Krankenhäusern in Gaza seien mittlerweile nur noch zwischen 13 und 15 - teilweise - funktionsfähig.

Die vom Palästinensischen Roten Halbmond betriebenen Kliniken Al-Kuds in Gaza-Stadt und Al-Amal in Chan Yunis mussten ihren Betrieb beispielsweise einstellen, als sie zur Evakuierung aufgefordert wurden, berichtet Johnen. Die Al-Kuds-Klinik konnte den Betrieb bis heute nicht wieder aufnehmen. "Eine Gesundheitsversorgung in Gaza ist allenfalls nur noch eingeschränkt möglich". Um der Bevölkerung des Gazastreifens ein Minimum an Schutz und Versorgung zu gewährleisten, so Johnen, "muss es dringend zu einer Deeskalation des bewaffneten Konflikts kommen".

Ukraine - Erschöpfung in jeder Pore

Was es mit Menschen macht, in einem Land zu leben, in dem die Waffen seit nun mehr als zweieinhalb Jahren nicht stillstehen, wird in der Ukraine deutlich. Die physischen - aber auch die psychischen Belastungen - "sind enorm", schreibt das Deutsche Rote Kreuz zu Beginn ihres Beitrags über die Ukraine. Als Johnen Anfang November mit Ukrainerinnen und Ukrainern in verschiedenen Teilen des Landes sprach, drängte sich ihm vor allem eins auf: "Die Menschen sind unvorstellbar müde und erschöpft." Johnen sprach mit Menschen in Kiew und in Odessa, aber auch in vielen Dörfern, etwa an der belarussischen Grenze. Die Erschöpfung ziehe sich durch das gesamte Land, durch Städte ebenso wie durch ländliche Gebiete.

Hinzu komme, dass eine große Anzahl von Menschen traumatisiert seien - "auch, wenn sie selbst nicht direkt von einem Angriff betroffen waren". Die Konsequenz eines Alltags, der über Jahre, Tag und Nacht, von Luftalarm geprägt ist. Psychosoziale Unterstützung, so Johnen, gehöre derzeit zu den größten Bedarfen in der Ukraine.

Da sich die Strukturen der humanitären Hilfe nach fast drei Jahren etabliert haben, sei die humanitäre Versorgungslage zwar besser als noch vor zweieinhalb Jahren, erklärt Johnen. Nichtdestotrotz ist weiterhin fast die Hälfte des Landes, rund 40 Prozent, auf lebensrettende Unterstützung angewiesen. Man denke bei humanitärer Hilfe oft nur an den Osten und Süden der Ukraine, also die Gebiete, in denen aktiv gekämpft wird, so der Experte. "Dabei vergisst man leicht die Millionen von binnenvertriebenen Menschen." Johnen berichtet von einem Gebiet im Norden der Ukraine nahe der belarussischen Grenze, in das viele Menschen aus den derzeit umkämpften Gebieten evakuiert werden. "Das sind in den meisten Fällen die Leute, die sich eine Flucht bisher nicht leisten konnten. Die kommen wortwörtlich mit nicht mehr als einer Plastiktüte voller Habseligkeiten." Viele Menschen müssen also weiterhin mit dem Grundlegendsten versorgt werden: Unterkunft, Kleidung, Lebensmittel, psychosoziale Unterstützung.

Zudem steht die humanitäre Hilfe nun bereits zum dritten Mal vor der für sie herausforderndsten Zeit. "Es ist davon auszugehen, dass dieser Winter für die Zivilbevölkerung der bisher härteste wird", schreibt das DRK. Denn erneut haben es die russischen Streitkräfte auf die Energieversorgung der Ukraine abgesehen. Bei bis zu Minus 20 Grad in Teilen des Landes sind die Auswirkungen schnell lebensgefährlich. Das DRK leistet daher spezielle Winterhilfe - und steht dabei vor einer besonderen Herausforderung." Die Situation und damit auch die benötigte Hilfe unterscheidet sich in Städten und auf dem Land deutlich", erklärt Johnen.

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So leben die Menschen in großen Städten meist in Mehrfamilienhäusern, in denen die Energieversorgung zentral geregelt ist. "Wenn da nun die Heizung ausfällt und es keinen Strom mehr gibt, können Sie sich als Einzelperson wenig helfen." In diesen Gebieten komme es also darauf an, Anlaufstellen anzubieten, in denen sich Menschen aufwärmen können, wo es warme Mahlzeiten gibt und wo sie ihre Handys laden können. In ländlichen Gebieten wird hingegen oft mit Holz oder Kohle geheizt. Winterhilfe bedeutet dort also eher, Geld oder Brennmaterial bereitzustellen.

Die humanitäre Hilfe in der Ukraine ist gut strukturiert, sie kann die Folgen der dreijährigen Eskalation zumindest abfedern - ob mit Hilfsgütern, Geld oder psychosozialer Unterstützung. Mit einem normalen Leben hat der Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer allerdings nichts zu tun. "Genau dieser Wunsch zieht sich durch das ganze Land."

Quelle: ntv.de

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