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Katastrophale Lage in Gaza "Würdevoll auf Toilette zu gehen, ist nicht mehr möglich"

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Das Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt wird vom Palästinensischen Roten Halbmond betrieben. Derzeit befinden sich neben den Patientinnen und Patienten rund 12.000 Schutzsuchende in der Klinik.

Das Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt wird vom Palästinensischen Roten Halbmond betrieben. Derzeit befinden sich neben den Patientinnen und Patienten rund 12.000 Schutzsuchende in der Klinik.

(Foto: picture alliance / Anadolu)

Die humanitäre Lage für Zivilistinnen und Zivilisten im Gazastreifen verschlechtert sich seit dem 7. Oktober rapide. Die gelieferten Hilfsgüter reichen bei Weitem nicht, erklärt Christof Johnen, Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes, im Gespräch mit ntv.de. Auf ihrer verzweifelten Suche nach Schutz flüchten zudem viele Menschen in Kliniken. Die Zustände in den ohnehin überlasteten Einrichtungen sind katastrophal - ein menschenwürdiger Alltag kaum vorstellbar, wie Johnen schildert.

ntv.de: Wie beschreiben die Einsatzkräfte des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes die Lage im Gazastreifen derzeit?

Christof Johnen: Die humanitäre Lage in Gaza wird immer verzweifelter. Keiner war darauf vorbereitet, dass es so eskalieren würde, daher mangelt es an allem: Nahrungsmittel, Wasser, Unterkünfte, medizinische Versorgung - und vor allem natürlich an Sicherheit und Schutz für die Zivilbevölkerung. Mittlerweile sind 1,4 Millionen von den rund 2,2 Millionen Menschen in Gaza Binnenvertriebene. Einige finden Zuflucht im UN-Hilfswerk, aber die Wahrheit ist, dass sehr viele Menschen auf der Suche nach Schutz auf den Straßen herumirren. Viele von ihnen suchen auch Zuflucht in Krankenhäusern, weil sie hoffen und glauben, dass ein Krankenhaus ein sicherer Ort ist.

Man kann sich die Situation für Tausende Menschen in ohnehin überlasteten Kliniken kaum vorstellen.

Der Palästinensische Rote Halbmond betreibt zum Beispiel zwei Krankenhäuser in Gaza, eins davon in Gaza-Stadt. Dort halten sich im Moment 12.000 Menschen auf, die Schutz suchen. Dazu kommen die Patienten. Wenn Tausende Menschen in einer Klinik leben, die darauf nicht ausgelegt ist, kann man sich vorstellen, wie es dort aussieht. Alle Gänge sind völlig überfüllt. Ein großes Problem ist auch die prekäre Wasserversorgung. Die wurde zwar teilweise wiederhergestellt, aber reicht bei Weitem nicht für all die Menschen. Der täglichen Hygiene nachzukommen oder einfach würdevoll auf Toilette zu gehen, ist nicht mehr möglich. Wenn sehr viele Menschen in dieser Lage zusammenleben, besteht auch die Gefahr, dass sich Krankheiten ausbreiten. Das kann Durchfall sein oder auch ansteckende Krankheiten wie Masern, was sehr gefährlich wäre. Die Bedingungen sind schlimm, die Situation höchst prekär. Deswegen ist es jetzt wichtig, dass Hilfe in ausreichendem Maße nach Gaza kommt.

Seit einigen Tagen dürfen LKWs mit Hilfsgütern die ägyptische Grenze nach Gaza passieren. Inwiefern verbessert das die Lage?

Grundsätzlich ist die Grenzöffnung natürlich zu begrüßen. Allerdings ist die Menge der Hilfe, die über diesen Grenzübergang kommt, absolut unzureichend. Im Durchschnitt kommen zwölf LKWs pro Tag nach Gaza. Die Vereinten Nationen schätzen, dass es mindestens 100 pro Tag bräuchte, um eine Minimalversorgung der Menschen zu gewährleisten. Die Hilfe fließt nicht in der erforderlichen Menge und auch nicht mit der nötigen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Und natürlich fehlt es auch an den Helfenden. Dem Roten Kreuz ist es vergangenen Freitag gelungen, zehn weitere Expertinnen und Experten nach Gaza zu bringen. Darunter waren etwa ein chirurgisches Team und Wasserbauingenieure, die versuchen, die Wasserinfrastruktur zumindest notdürftig wieder instand zu setzen. Damit diese Helfenden ihre Arbeit aber so ausüben können, wie es notwendig ist, braucht es aber mehr Hilfsgüter und Sicherheitsgarantien.

Wie sieht die Arbeit Ihrer Mitarbeiter in dieser prekären Situation konkret aus?

Primär ist im Gazastreifen unsere Schwestergesellschaft, der Palästinensische Rote Halbmond, aktiv. Vor dem 7. Oktober haben wir als Deutsches Rotes Kreuz die Kollegen vor Ort dabei unterstützt, die präklinische Notfallversorgung, also einen Rettungsdienst, aufzubauen und zu betreiben. Diese Hilfe war finanzieller, aber vor allem beratender und struktureller Art. Seit dem 7. Oktober haben wir unser Programm umgestellt und stellen den palästinensischen Kollegen auch medizinische Hilfsgüter zur Verfügung. Ohne sie wäre die vermehrte Rettungsarbeit mit den vielen Verletzten durch die Kampfhandlungen kaum zu stemmen. In den sechs Lkws der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, die bisher nach Gaza kamen, waren neben Medikamenten auch standardisierte medizinische Güter. Mit diesen können jeweils 100 Menschen, die typische Verletzungen durch Kampfhandlungen wie Schusswunden oder Splitter haben, versorgt werden. Zudem unterstützen wir bei der Organisation der Lieferungen, denn das ist ein ziemlich aufwendiges Verfahren.

Inwiefern?

Es ist viel Verwaltungsarbeit in Vorbereitung des Grenzübertritts notwendig. Dann fahren Kollegen des Ägyptischen Roten Halbmondes bis zur Grenze nach Gaza. Dort werden die Lkws kontrolliert. Dann findet ein sogenanntes Back to Back-Verfahren statt: Zwei Lkws fahren mit dem Heck aneinander und die Hilfsgüter werden vom Lkw des Ägyptischen Roten Halbmondes in den des Palästinensischen Roten Halbmondes umgeladen. Die ägyptischen Transporter dürfen oft nicht nach Gaza reinfahren. In Gaza angekommen, werden die Hilfsgüter unmittelbar an die Menschen in den Schutzräumen verteilt. Da die Mengen so gering sind, ergibt eine Lagerhaltung im Moment keinen Sinn.

Gaza wird von der Terrororganisation Hamas kontrolliert. Das heißt, dass ihr alle Ministerien und Ämter unterstehen. Wie funktioniert die Arbeit internationaler Hilfsorganisationen unter diesen Voraussetzungen?

Es ist die Aufgabe und Pflicht des Internationalen Roten Kreuzes, mit allen Konfliktparteien zu sprechen. In Gaza gehören dazu auch Vertreter der Hamas, da sie de facto auch die Behörden sind. Nur durch einen vertraulichen Dialog mit allen Konfliktparteien ist die Aushandlung sicherer Zugänge für humanitäre Helfer zur Zivilbevölkerung möglich. Als neutraler Vermittler steht das Internationale Rote Kreuz bereit, um die Geiseln zu besuchen, Kontakt zu ihren Familienangehörigen herzustellen und eine etwaige Freilassung zu unterstützen.

Was bedeuten die mehrfachen Totalausfälle der Kommunikationsmöglichkeiten für Ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort?

Für einen Rettungsdienst ist das natürlich verheerend. Die Menschen hatten zum Beispiel am vergangenen Freitag keine Möglichkeit mehr, die 101, also den Notruf im Gazastreifen, zu wählen. Damit waren die Menschen, die Leben retten sollen, nicht mehr zu erreichen. Zur gleichen Zeit gab es heftigere und intensivere Kampfhandlungen als ohnehin schon. Dazu liegen die Straßen in Trümmern. Vor diesem Hintergrund ist es für die Helfenden eine enorme Herausforderung, ihrer Aufgabe nachzukommen.

Was sind die größten Probleme bei der medizinischen Versorgung in den Kliniken?

Die Probleme fangen bei den Kapazitäten des Personals an. All die Ärztinnen und Ärzte, das pflegende Personal, die Verwaltung, Technik und auch Hausmeister und Reinigungskräfte sind seit mehr als drei Wochen ohne Unterbrechung im Einsatz. Dabei sind diese Menschen und ihre Familien ja auch direkt vom Konflikt betroffen. Die Helferinnen und Helfer sind erschöpft und müde. Daher wäre es so wichtig, mehr externe Teams und frische medizinische Güter hineinzubringen. Zudem hat zwar jedes Krankenhaus eine gewisse Vorhaltung, also eine interne Apotheke, aber die geht nun zu Ende. Das fängt beim Desinfektionsmittel an und hört bei Schmerzmitteln, Anästhetika und Verbandsstoffen auf. Zudem läuft die Stromversorgung seit der Eskalation über Generatoren. Da es aber an Treibstoff mangelt, haben die Kliniken nur noch stundenweise Strom oder sie konzentrieren diese auf Bereiche, die permanente Stromversorgung brauchen wie Neugeborenen- oder Intensivstationen. So werden Kliniken in ihren Möglichkeiten, verletzten Menschen zu helfen, deutlich beschränkt. Zuletzt darf man die Belastung durch die Kampfhandlungen nicht vergessen. Am Wochenende kam es zu Detonationen im unmittelbaren Umfeld vom Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt, das vom Palästinensischen Roten Halbmond betrieben wird. Die Kollegen haben berichtet, dass das ganze Krankenhaus gebebt hat.

Die Al-Kuds-Klinik ist auch jenes Krankenhaus, das von den israelischen Streitkräften zur Evakuierung aufgefordert wurde. Inwiefern sind Ihre Kolleginnen und Kollegen dem nachgekommen?

Gar nicht. Ein Krankenhaus kann nicht evakuiert werden, wenn nicht ein anderes Krankenhaus oder eine entsprechende Struktur bereitsteht, wo die Menschen medizinisch weiterbehandelt werden können. Zudem muss die Versorgung der Patienten während der Verlegung garantiert sein. Dies ist schon in Friedenszeiten eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Mitten in einem bewaffneten Konflikt ist es unmöglich. Das ist einer der Gründe dafür, dass Krankenhäuser im humanitären Völkerrecht einen besonderen Schutz erfahren. Sie sollen Orte der Sicherheit und Zuflucht sein.

Israel hat vor wenigen Tagen angekündigt, der Krieg werde "schwierig und langwierig". Wie kann eine humanitäre Katastrophe in Gaza vor diesem Hintergrund verhindert werden?

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Die Menschen brauchen einen sicheren Ort, an den sie gehen können und humanitäre Hilfe muss möglich sein. Alles andere ist inakzeptabel. Deshalb fordern wir von allen Konfliktparteien zu deeskalieren, das humanitäre Völkerrecht zu beachten und humanitäre Hilfe in ausreichendem Maße zuzulassen. Wir als Rotes Kreuz haben keinen Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung. Wir können nur auf das Leiden der Menschen und die dramatische Situation vor Ort aufmerksam machen. Wenn wir es als Welt nicht schnell schaffen, das zu ändern, ist das ein katastrophales Versagen.

Mit Christof Johnen sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

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