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Menschen feiern, Krise wächst DRK: "Es ist zu früh, die Rückkehr der Syrer zu planen"

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Viele Menschen werden durch die erneuten Kampfhandlungen ein zweites oder sogar drittes Mal vertrieben.

Viele Menschen werden durch die erneuten Kampfhandlungen ein zweites oder sogar drittes Mal vertrieben.

(Foto: picture alliance / abaca)

Einerseits bejubeln Syrerinnen und Syrer weltweit den Sturz Assads, andererseits stürzt das Land in eine noch tiefere humanitäre Krise. Niemand könne sagen, was morgen passiert - in Syrien herrschen Ungewissheit, Vertreibung und Inflation, sagt Christof Johnen. Im Gespräch mit ntv.de spricht der Leiter der Internationalen Zusammenarbeit des Deutschen Roten Kreuzes über die Herausforderungen der humanitären Hilfe in dem von 13 Jahren Bürgerkrieg ausgezehrten Land. Und er erklärt, warum er von den politischen Rückkehr-Forderungen für syrische Flüchtlinge momentan nicht viel hält.

ntv.de Herr Johnen, Syrerinnen und Syrer auf der ganzen Welt feiern den Sturz des Assad-Regimes. Gleichzeitig kommt es durch die Machtübernahme wieder vermehrt zu Angriffen im Land. Was macht all das mit den Menschen vor Ort?

Christof Johnen: Da passiert gerade viel auf einmal. Einerseits ist die Stimmung sehr positiv, auch in Syrien gehen viele Menschen auf die Straßen, um zu feiern. Andererseits - und ich glaube, das ist das Entscheidende - herrscht Ungewissheit. Die Lage ist sehr unübersichtlich. Niemand weiß, was in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten passieren wird. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass schon vor den Ereignissen in den vergangenen Tagen 16 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen waren. Dieser Bedarf sinkt nicht plötzlich, nur weil es einen Machtwechsel gegeben hat.

Laut dem Auswärtigen Amt hat sich die humanitäre Lage in den vergangenen Tagen sogar noch einmal deutlich verschlechtert.

Ja, denn in der ohnehin prekären Lage werden durch die Kampfhandlungen nun wieder vermehrt Menschen vertrieben. Am Wochenende waren es bereits eine Million. Die meisten von ihnen werden bereits zum zweiten oder dritten Mal vertrieben - diese Menschen sind natürlich besonders verletzlich. Zeitgleich beobachten wir innerhalb des Landes bereits Rückkehrbewegungen. In einem Land, dessen Infrastruktur nach 13 Jahren bewaffneter Konflikte weitgehend zerstört ist, passiert also gerade ganz viel gleichzeitig. Hinzu kommt, dass sich die wirtschaftliche Lage vor Ort noch einmal verschlechtert hat.

Inwiefern?

Durch den langen bewaffneten Konflikt hat Syrien auch einen wirtschaftlichen Niedergang erlebt. Auch von den Folgen der Pandemie und des Erdbebens 2023 hat sich das Land nie richtig erholt. Es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Nun beobachten wir zu alledem noch eine unglaubliche Inflation: Die inoffiziellen Wechselkurse des syrischen Pfunds sind so stark in die Höhe geschossen, wie wir es noch nie erlebt haben. Lebensmittel und Co. sind damit selbst für die Menschen kaum noch erschwinglich, die noch ein bisschen Einkommen oder Erspartes hatten. Humanitäre Hilfe ist also nicht weniger dringend geworden, im Gegenteil.

Ob und wie humanitäre Hilfe zugelassen wird, hängt allerdings von den Machthabern in Syrien ab. Einige Regionen des Landes werden bereits seit Jahren von Rebellengruppen kontrolliert. Wie hat die Verständigung bisher funktioniert?

Das oberste Ziel ist, dass Menschen, die Hilfe benötigen, Hilfe bekommen. Dafür haben wir als Rotkreuz und Rothalbmond-Bewegung immer den Anspruch, mit allen Parteien, die im jeweiligen Gebiet Einfluss haben, zu sprechen. Nur so können wir Menschen selbst unter schwierigsten Bedingungen unparteiisch, also allein nach dem Maß der Not helfen. Und das hat auch in Syrien insofern funktioniert, als dass wir Zugang zu den Menschen in den verschiedenen Einflusssphären bekommen haben. Allerdings muss man auch sagen: nicht ausreichend und nicht regelmäßig.

Tatsächlich gilt die humanitäre Hilfe in Syrien als besonders schwierig. Vor welchen Herausforderungen stehen die Helfenden noch?

Auch die Kampfhandlungen machen es schwer, alle Menschen zu erreichen. Besonders extrem war das zum Beispiel während der Belagerung von Ost-Aleppo 2016. Zudem hat das öffentliche Interesse für Syrien in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Das bedeutet schlichtweg, dass für die humanitäre Hilfe nicht mehr so viel Geld zur Verfügung steht. Das wird sich nun hoffentlich wieder ändern, denn auch wir als DRK sind auf Spenden angewiesen, um helfen zu können. Was beispielsweise Infrastrukturprojekte angeht, gab es auch immer wieder politische Vorbehalte. Man wollte keinen Wiederaufbau mit öffentlichen Geldern finanzieren und damit die Regierung in Syrien unterstützen.

Umso mehr wird dafür jetzt über einen Wiederaufbau Syriens gesprochen, auch in Deutschland. Unionspolitiker Jens Spahn denkt beispielsweise über eine "Wiederaufbau- und Rückkehrkonferenz" nach. Wie könnte ein entsprechender Plan aussehen?

Bevor der wirtschaftliche Wiederaufbau gelingen kann, muss der Fokus in Syrien klar auf den Basisdienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge liegen. Wir reden über ein Land, dessen Infrastruktur in 13 Jahren bewaffneter Konflikte zu großen Teilen zerstört wurde. Weder die Wasserversorgung noch die Abwasserentsorgung oder die Stromversorgung sind stabil, geschweige denn leistungsfähig. Wenn diese Dinge nicht funktionieren, kann sich ein Land nicht erholen. Abgesehen davon halte ich konkrete Pläne für einen Wiederaufbau für noch zu früh.

Warum?

Weil die Situation vor Ort nach wie vor sehr unübersichtlich ist und man erst einmal schauen muss, auch politisch, wie es sich entwickelt. Zudem leben viele Menschen der Bevölkerung in Not- und Übergangsunterkünften, es fehlt wirklich am Nötigsten. Priorität muss daher im Moment sein, die Menschen zu versorgen. Dazu gehören Unterkünfte, Lebensmittel aber auch Sanitäreinrichtungen, um jetzt im Winter die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern.

Diskutiert wird neben dem Wiederaufbau vor allem die Rückkehr von syrischen Flüchtlingen. Könnte Syrien das im Moment überhaupt stemmen?

Die Menschen kämen in ein Land, in dem keiner weiß, was morgen geschieht und in dem schon jetzt 16 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Es ist selbstverständlich die eigene Entscheidung jeder Syrerin und jedes Syrers, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Aber angesichts der aktuellen Debatten entsteht möglicherweise ein falscher Eindruck. Denn von einem normalen Leben und von einem funktionierenden Staat sind die Menschen in Syrien noch weit entfernt, abgesehen davon, ist die Lage eben noch sehr unübersichtlich und dynamisch. Daher ist es relativ früh, die Rückkehr von Syrerinnen und Syrern zu planen.

Mit Christof Johnen sprach Sarah Platz

Quelle: ntv.de

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