Panorama

Neue Shell-Jugendstudie "Krisen gehen an junger Generation nicht spurlos vorüber"

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Bei den jungen Leuten zeigt sich vieles, was auch in der Gesellschaft passiert.

Bei den jungen Leuten zeigt sich vieles, was auch in der Gesellschaft passiert.

(Foto: IMAGO/Rolf Zöllner)

Alle fünf Jahre gibt es neue Ergebnisse der Shell Jugendstudie. Hinter den Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegen Pandemiejahre und das Näherrücken von Krieg. Das geht nicht spurlos vorüber, sagt Studienmitautor Ingo Leven.

ntv.de: Wenn man ein Label finden müsste für die Generation, die sich da jetzt in der Shell Jugendstudie 2024 zeigt, was könnte das sein?

Ingo Leven: Wir sind in der Shell Jugendstudie bewusst anders unterwegs und schauen uns eher an, was die Mehrheit der jungen Menschen wirklich beschreibt. Generation Greta oder Generation Rechtsdrall, so überspitzt lasst sich die Jugend nicht auf schillernde Ausnahmefiguren oder Abteiltendenzen zusammenfassen. Was wir aber sagen können, ist, dass es sich bei den 12- bis 25-Jährigen um eine sehr pragmatische junge Generation handelt, die optimistisch zukunftszugewandt ist.

Laut den von Ihnen erhobenen Zahlen ist es auch eine politisch sehr wache Generation. An welchen Auffassungen zeigt sich das?

Diese junge Generation positioniert sich politisch viel stärker als noch vor fünf oder zehn Jahren. Wenn man junge Menschen fragt: Wo ordnest du dich ein, links oder rechts oder eher in der Mitte, dann gibt es nur noch sehr wenige junge Menschen, die damit nichts anfangen können und deswegen sagen: Weiß ich nicht. Das ist Ausdruck davon, dass diese junge Generation durch viele gesellschaftliche Krisen mitgeprägt worden ist und das nicht spurlos an ihnen vorübergeht. Deshalb setzen sie sich vielleicht auch früher als andere Generationen zuvor mit politischen Themen auseinander.

Was ist bei den Jugendlichen größer, die Angst vor dem Klimawandel oder die Kriegsangst?

Durch die Situation im Nahen Osten und den Angriffskrieg von Russland in der Ukraine wird Krieg wieder so nah an die Jugend herangetragen wie schon lange nicht mehr. Das ist aktuell das beherrschende Thema. Das bedeutet nicht, dass Klima und Umweltkrise gar keine Rolle mehr bei jungen Menschen spielen. Viele von ihnen gehen davon aus, dass das dicke Ende dort erst noch kommt. Aber das ist nicht im Hier und Jetzt, diese unmittelbaren, katastrophalen Auswirkungen türmen sich quasi erst in der Zukunft richtig auf. Von daher ist das sowohl als auch.

Bei den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg haben viele Jung- und Erstwähler ihre Stimme der AfD gegeben. Was sehen Sie in den Befragungen an politischen Überzeugungen?

Wir sehen, dass eine große Mehrheit der jungen Menschen heute sehr positiv über Demokratie denkt und durchaus auch zukunftszugewandt ist. Manche haben auch progressive Einstellungen. Es gibt aber einen nicht unwesentlichen Teil von jungen Menschen, die eher resigniert und verdrossen sind. Und von daher beschreibt das letztendlich die Wirklichkeit bei jungen Menschen genauso wie in anderen Altersgruppen, dass es Resonanzboden für populistische, für rechtsextreme Meinungen und Tendenzen gibt.

Sie schreiben, dass antisemitische Auffassungen nicht zugenommen haben. Woran machen Sie das fest?

Wir merken insgesamt, dass die junge Generation insgesamt weiterhin sehr tolerant ist. Das betrifft zum Beispiel Fragen, wen man gern in der Nachbarschaft hätte oder nicht so gern. Die Toleranz nimmt nicht ab, auch nicht gegenüber der jüdischen Familie, die nebenan einzieht. Das ist auf einem Niveau, wie wir es immer messen. Sichtbar wird, was schon immer in der Gesellschaft da war. Bei der Frage, ob die Sicherheit Israels für die Bundesrepublik Staatsräson ist, sehen wir eine stark polarisierte Jugend. Gleiche Teile sagen: Ja, das sehen wir so, und nein, wir sehen es nicht so und viele sind an der Stelle unentschlossen irgendwo in der Mitte. Da sehe ich eine Aufgabe für politische Jugendbildung sowohl in der Schule als auch außerschulisch statt Sonntagsreden.

Was treibt diese Generation jenseits politischer Themen an?

Die junge Generation will ihr eigenes Leben auf die Kette bringen. Dazu gehört, dass die breite Mehrheit leistungsorientiert ihren Weg durch das Bildungssystem geht. Die jungen Menschen sind sehr zuversichtlich, dass die nächsten Etappen, sei es der Schulabschluss oder die Übernahme nach der Ausbildung oder der Job nach dem Studium gelingen werden. Das ist eine Realität für diese Generation, weil sie in Zeiten des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels durchaus in einer sehr guten Chancensituation ist. Daran arbeiten sie. Das merkt man in den Wertorientierungen, wo sie in der Breite sehr zielorientiert sind und auch gemeinschaftliche Werte wie Freundschaft und Familie sehr stark schätzen.

Das passt nicht so recht zu dem ansonsten gezeichneten Bild, dass die Familie angeblich unwichtiger wird.

Es gibt diese Idealbilder und es gibt die Wirklichkeit. Wir haben junge Menschen, die sich eher einsam fühlen, die gern mehr Freundschaften hätten. Manche jungen Menschen grenzen sich sehr stark von ihrer Herkunftsfamilie ab, indem sie zum Beispiel sagen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht so erziehen wollen, wie sie selbst erzogen wurden. Aber es gibt eine Sehnsucht nach stabilen familiären Strukturen.

Wie bewerten Sie, dass die Ergebnisse je nach Bildungsgrad der Jugendlichen oft sehr unterschiedlich ausfallen?

Wir sehen an vielen Stellen in der Jugendstudie, wie stark die soziale Herkunft in den Ergebnissen eine Rolle spielt. Bildung wird noch immer stark vererbt, wir schaffen es nicht, das zu durchbrechen. Wenn ein Elternteil Abitur hat, dann ist die Wahrscheinlichkeit, die Kinder am Gymnasium anzutreffen, bei 80 Prozent. Bei Eltern ohne oder mit einem einfachen Schulabschluss liegt dieser Anteil nur bei 27 Prozent. Wenn wir als Gesellschaft nicht wollen, dass sich viele junge Menschen abgehängt fühlen, dann müssen wir hier definitiv ansetzen.

Die letzte Studie war 2019, vor der Pandemie, vor dem Ukrainekrieg, vor dem 7. Oktober. Wie zeigen sich diese einschneidenden Ereignisse?

Das Einzige, was wir in den Daten erkennen, ist, dass die junge Generation mehr anerkennt und dankbar dafür ist, in was für einem Land sie leben. Gemessen an dem, was um uns herum passiert, herrschen hier ziemlich gesicherte, stabile und gute Strukturen, die ein gutes Leben ermöglichen. Und deswegen ist auch eine große Mehrheit der Jugendlichen davon überzeugt, dass Deutschland als Gesellschaft gute Voraussetzungen dafür schafft, dass sie ihr eigenes Leben verwirklichen können. Wenn man vielleicht als Schülerin oder Schüler ukrainische Gleichaltrige kennenlernt, weil die als Geflüchtete in die eigene Schule kommen, merkt man, was einem in diesem Alter auch schon widerfahren sein kann. Das führt eher zu einer Form von Dankbarkeit.

Bei vielen Untersuchungen, die sich zuletzt mit der Lebenswirklichkeit von jungen Leuten beschäftigt haben, gab es den Verweis auf die Corona-Pandemie als prägendes Erlebnis. Wie haben die 12- bis 25-Jährigen die Pandemie weggesteckt?

Vor allem in den offenen Gesprächen haben wir festgestellt, dass Corona für den Großteil der Jugendlichen im Rückspiegel stattfindet. Dahin schaut man zurück, das ist nicht mehr akut. Mehr als die Hälfte der Befragten hat gesagt, sie haben keine langfristigen negativen Folgen mehr zu berichten. Viele haben das sogar als positiv erlebt, weil diese Krise bewältigt wurde. Wir haben es als Menschheit geschafft, ein Virus mit Impfung so weit zu bändigen, dass die katastrophalen gesundheitlichen Auswirkungen, die zu Anfang zu beobachten waren, doch deutlich zurückgegangen sind. Jugendliche finden es auch positiv, dass wir dadurch bei der Digitalisierung einen Sprung nach vorn gemacht haben. Auf der anderen Seite darf man nicht verkennen, dass es auch Jugendliche gibt, die noch immer gesundheitliche Auswirkungen haben. Sie brauchen Hilfestrukturen, die sie auffangen, und die sind zum Teil halt sehr stark überlastet.

Sie haben Jugendliche von 12 bis 25 Jahren befragt, an welcher Stelle fallen die Ergebnisse der Altersgruppen etwas auseinander?

Wir merken, dass die Jugendlichen mit 12 oder 13 noch kein geschlossenes Weltbild haben und auch noch nicht so klar strukturiert sind. Das ist ein Reifeprozess, der dann mit 23, 24 Jahren weiter ist. Man sollte aber nicht verkennen, dass es auch 13- oder 14-Jährige gibt, die schon den Durchblick haben. Da fragt man sich selbst, wie weit war ich eigentlich in dem Alter? Und kommt zu dem Schluss, so weit vielleicht noch nicht.

Mit Ingo Leven sprach Solveig Bach

Quelle: ntv.de

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