Bildungssystem in Deutschland Wie ein Arbeiterkind den Sprung an die Hochschule schafft


Über Arbeiterkind.de wird Tim Hülquist (l.) Mentor von Gariram Nirmalakumar (r.). Hier beim Gespräch im Willi-Bleicher-Haus des DGB in Stuttgart.
(Foto: Olga Geiger)
Kindern aus bildungsfernen Familien gelingt es in Deutschland selten, ein Studium zu beginnen. Nur 27 von 100 Kindern ohne akademischen Hintergrund schaffen den Sprung an die Hochschule. Der 20-jährige Gariram Nirmalakumar ist einer von ihnen und die Hürden waren hoch.
Der 20-jährige Gariram Nirmalakumar hat es geschafft. Seit Oktober 2022 studiert Gari an der Dualen Hochschule in Mannheim den Studiengang Betriebswirtschaftslehre im Schwerpunkt Öffentliche Wirtschaft. Mit seinem biografischen Hintergrund ist das nicht selbstverständlich. Garis Eltern sind in den 1990er-Jahren aus Sri Lanka nach Deutschland gekommen. Sie haben nicht studiert. "In Sri Lanka haben sie nur die Grundlagen an Bildung erfahren", erzählt Gari im Gespräch mit ntv.de. "Meine Eltern wollten von Anfang an, dass ich studiere." Obwohl er eine Realschulempfehlung hatte, schickten sie ihn aufs Gymnasium. Auch seine jüngere Schwester macht in zwei Jahren Abitur.
Welchen Bildungsweg Kinder in Deutschland einschlagen, hängt stark von ihrer sozialen Herkunft ab. Dies verdeutlichen immer wieder Erhebungen wie der sogenannte "Bildungstrichter": Demnach schaffen 27 von 100 Kindern ohne akademischen Hintergrund den Sprung an eine Hochschule. Im Gegensatz dazu beginnen 79 von 100 Kindern aus Akademikerhaushalten ein Studium.
"Viele Zusammenhänge der sozialen Herkunft können ein Studium erschweren", erklärt Katja Urbatsch im Gespräch mit ntv.de. Sie stammt selbst aus einem Elternhaus ohne akademischen Hintergrund. Nach ihrem Studium an der Freien Universität Berlin gründet sie die gemeinnützige Organisation Arbeiterkind.de, um Menschen aus Familien ohne Hochschulerfahrung im Studium zu unterstützen. Garis Erfolgsgeschichte ist auch ihre, denn der 20-jährige ist Teil des Mentoring-Programms von Arbeiterkind.
Studium als Versprechen zum sozialen Aufstieg
Dem Hochschulreport zufolge führen fehlende Erfahrung und der Mangel an Rollenvorbildern in der Familie dazu, dass sich Nichtakademikerkinder ein Studium seltener zutrauten. Und wenn mit dem Studieneintritt sehr viele Informationen auf die Arbeiterkinder einprasseln, seien diese häufig überfordert.
"Die Eltern oder die Familie können selbst ein Hindernis sein. Es gibt Eltern, die sich gegen ein Studium ihres Kindes stellen", sagt Urbatsch. "Auch Eltern haben Ängste und Unsicherheiten. Jeder Mensch möchte natürlich, dass seine Eltern stolz auf ihn sind und ihn unterstützen. Und wenn Eltern das nicht tun, ist es für die Kinder wirklich schwer", erklärt Urbatsch ihre Erfahrungen aus dem Netzwerk der Organisation.
Doch Garis Eltern wollen, dass ihr Sohn studiert. "Es ist ein weitverbreiteter Gedanke, dass ein Studium den Weg zum sozialen Aufstieg ebnet", sagt Gari.
Mentoring: Rückenwind für Arbeiterkinder mit Hochschulambitionen
2019, damals ist Gari 16 Jahre alt und am Ende der 10. Klasse, besuchen ein Geisteswissenschaftler und ein Naturwissenschaftler sein Gymnasium. Sie informieren über mögliche Wege an die Hochschulen. Einer von ihnen ist Tim Hülquist. Er ist der erste in seiner Familie, der an einer Universität studiert hat. "Ich komme aus dem sozialdemokratischen Milieu. Ich bin mit den Kämpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter groß geworden", erzählt der heute 42-Jährige ntv.de.

Gari bei der Zeugnisverleihung zum bestandenen Abitur im Jahr 2021.
(Foto: Vimaleswary Nirmalakumar)
Nach dem Abitur macht Hülquist zunächst Zivildienst bei der Arbeiterwohlfahrt und danach eine Ausbildung im Lebensmitteleinzelhandel. Doch 2004 zieht es ihn an die Hochschule. An der Universität Hamburg studiert er bis 2011 Islamwissenschaft und Erziehungswissenschaften. Um sich zu finanzieren, muss er nebenbei arbeiten. "Die Nebenjobs waren eine zusätzliche Belastung, die das Studium nicht leichter gemacht haben", sagt er. Auch aus dem Umfeld seiner Familie gibt es "Gegenwind". "Die breite Akzeptanz in meiner Familie kam erst nach dem Studium, als ich einen festen Job hatte. Mittlerweile habe ich eine Leitungsfunktion mit einer Entgeltgruppe im höheren Dienst. Ein Novum in meiner Familie." Tim Hülquist ist einige Zeit in der Linken parteipolitisch aktiv. Ihm ist es wichtig, "die soziale Mobilität zu fördern, wobei der breite Zugang zu höherer Bildung ein wichtiger Eckpfeiler einer Demokratie ist". Nach dem Besuch an Garis Gymnasium vermittelt eine engagierte Lehrerin den Kontakt zu Gari.
Für ein Kennenlernen treffen sich Mentor und Mentee in Stuttgart zum Kaffee. "Als Erstes haben wir geschaut, wo meine Interessen liegen und darüber gesprochen, in welche Richtung ich gehen könnte. Dann haben wir einen Zeitplan entwickelt", blickt Gari zurück.
Regelmäßig treffen sie sich - schließlich in der Zeit der Corona-Pandemie virtuell - um sich über Pläne auszutauschen und Ziele festzusetzen. Gari interessiert sich für Ingenieurswesen, also vermittelt Tim Gespräche mit Ingenieuren, die sich mit dem angehenden Abiturienten in Video-Calls über ihr Berufsleben austauschen. Danach weiß er, dass dieser Berufszweig nichts für ihn ist. Schließlich weckt der Leistungskurs Wirtschaft seine Neugier.
Was ist ein "duales Studium"
Mit Höhen und Tiefen schafft er das Abitur. Da die Bewerbungsfristen in diesem Jahr schon abgelaufen sind, reist er und arbeitet nebenbei immer wieder in Aushilfsjobs. Nach regem Austausch mit Tim fällt Gari eine Entscheidung: Er möchte dual studieren.
Er möchte praxisnah arbeiten und nicht für einen großen Konzern, sondern für das Allgemeinwohl. "Deshalb habe ich mich für die öffentliche Hand entschieden", sagt er. Mit der Unterstützung seines Mentors bewirbt sich Gari 2021 und bekommt einige Zusagen. "Die Stadt Stuttgart als Arbeitgeber stand aber von Anfang an auf Platz eins meiner Wunschliste. Und als die Zusage wenige Wochen nach dem Bewerbungsgespräch kam, habe ich mich sehr gefreut" sagt er. "Meinen Eltern musste ich erst einmal erklären, was ein duales Studium ist. Erst haben sie nicht verstanden, warum ich arbeiten gehe. Sie haben sich Sorgen gemacht und dachten, es wäre wegen des Geldes. Aber natürlich haben sie sich sehr darüber gefreut", sagt er.

Im Oktober 2022 startet Gari sein duales Studium mit einer Praxisphase bei der Stadt Stuttgart.
(Foto: Andreas Topp)
Im Oktober 2022 startet Gari mit einer Praxisphase bei der Stadt Stuttgart. Vor allem am Anfang geht es nicht ohne sein Erspartes. Im dualen Studium wechselt er alle drei Monate zwischen Theorie und Praxis. Während der Theoriephasen ist er in Mannheim, wo er zweieinhalb Monate Vorlesungen hat und in den letzten zwei Wochen vom dritten Monat Klausuren absolvieren muss. In Mannheim lebt er in einem kleinen Zimmer vom Studierendenwerk, das ihn 280 Euro im Monat kostet. Zwei Wohnungen zu unterhalten, kann er sich nicht leisten. "Wenn meine Eltern nicht in Stuttgart wohnen würden, hätte ich ein Problem", sagt er.
Bildungsgerechtigkeit - ein Thema, das niemanden betrifft?
Als dualer Student bekommt Gari jeden Monat Gehalt - auch in den Theoriephasen. "Es lässt sich durchaus davon leben." Trotzdem gebe es auch immer wieder Phasen, wo er auf Gespartes zurückgreifen muss oder jeden Cent zählt. "Besonders am Semesteranfang habe ich oft hohe Ausgaben, da muss man viele Bücher kaufen. Oder wenn ich meine Hausarbeiten schreiben, binden und verschicken muss, das kostet."
Wenn er es unbedingt bräuchte, würden seine Eltern aber alle Hebel in Bewegung setzen, um ihm finanziell unter die Arme zu greifen. "Viele aus meinem Umkreis haben keine finanziellen Sorgen. Sie müssen diese Hürden nicht bewältigen." Da unterscheide er sich von anderen Studierenden. Gari gelingt es finanziell auf eignen Beinen zu stehen: Seit Oktober 2023 erhält er ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung.
Im Hochschulalltag werde über Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit nicht geredet. "Vielleicht, weil es fast niemanden betrifft. Ich gehe davon aus, dass die meisten Eltern haben, die studiert haben. Wenig Bildung steht meistens in Verbindung mit wenig Geld", vermutet er.
Quelle: ntv.de