Panorama

Verstörendes Sylt-Video "Prosecco-Nazis" sind nichts Neues

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Partystimmung mit Hitlergruß am Pfingstwochenende auf Sylt.

Partystimmung mit Hitlergruß am Pfingstwochenende auf Sylt.

Rechtsextremistisches Gedankengut findet sich nach Ansicht von Experten in allen Gesellschaftsschichten. Die Oberen verpackten ihre Einstellung in der Regel aber weniger explizit. Das Video aus Sylt bricht damit - und erfährt auch deswegen so viel Aufmerksamkeit.

"Prosecco-Nazis" nannte Grünen-Politiker Jürgen Trittin die Protagonisten des Sylt-Videos und setzte damit den Ton. Keine aus der Luft gegriffene Bezeichnung, denn die zu "L'amours toujours" gebrüllten Parolen waren nicht nur offen rechtsextrem, auch der Champagner floss im Schickimicki-Schuppen "Pony" höchstwahrscheinlich in Strömen. Überhaupt ist die öffentliche Aufmerksamkeit erst dieser Kombination geschuldet. Als zuvor bereits auf Volksfesten und Diskotheken in Pahlen, Schenefeld, Landsberg oder Bergholz rassistische Gesangseinlagen zum Besten gegeben wurden, blieb der kollektive Aufschrei aus, ein Störgeräusch produzierte erst ein Haufen "Rich Kids" im Reetdach-bedeckten Kampen.

Offenbar fehlt bei Nazi-Parolen in der Provinzdisko schlicht das Überraschungsmoment. Die Rechtsextremismus-Forscherin Pia Lamberty erklärt das im ntv.de-Interview mit einem Bruch von Erwartungen: In der landläufigen Debatte würden Rechtsextreme als abgehängte, vom Wohlstandsverlust betroffene Bildungsverlierer dargestellt. Überspitzt formuliert: Warum ein Nazi sein, wenn es einem gut geht?

Rechtsextremismus sei allerdings "kein Arme-Leute-Extremismus", betont der Konfliktforscher Andreas Zick im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst. "Es sind die Mittel- und Oberschichten, die nach Studienlage den Rechtspopulismus tragen. Es sind ökonomisch nicht bedrohte Menschen, die für die Propaganda, die Verbreitung von Verschwörungsmythen sorgen und den Rechtsextremismus organisieren wie stärken."

Überlegenheitsdenken in allen Schichten

Untersucht hat das Zick in seiner Mitte-Studie zu rechtsextremen Einstellungen in der Gesellschaft. Daraus geht hervor, dass sechs Prozent der Menschen, die sich zur Oberschicht zählen, rassistische Einstellungen teilen, wie etwa "Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen". In der Mittelschicht sind es ebenfalls sechs Prozent, bei den Menschen, die sich in der unteren Schicht sehen, lediglich vier Prozent.

Tatsächlich kommt der Rechtsextremismus in Deutschland längst nicht mehr in Springerstiefeln und Bomberjacke daher, sondern kleidet sich in ein intellektuelles und bildungsbürgerliches Gewand. Mit Verlagen, Denkfabriken und eigenen Medien will die Neue Rechte ihre verfassungsfeindlichen und völkischen Ideen salonfähig machen. Abgeordnete der AfD - zu 80 Prozent Akademiker - tragen diese Ideen bis in den Bundestag. Ohnehin gibt sich die Partei seit jeher größte Mühe, den öffentlichen Diskurs mit Provokationen und Tabubrüchen nach rechts zu verschieben.

Ähnlicher Effekt wie nach Potsdam-Treffen

Die "gesellschaftliche Verankerung" von Rechtsextremismus sei vielen erst im Zuge der "Correctiv"-Recherche zum Potsdamer-Treffen bewusst geworden, sagt Expertin Lamberty. Rechte Politiker und finanzstarke Unternehmer suchten dort den Schulterschluss, um unter dem euphemistischen Begriff der Remigration eine Massendeportation zu verhandeln. Das Sylt-Video habe nun einen ähnlichen, offenbarenden Effekt. Statt zu verschleiern, schreit die Oberschicht offen "Ausländer raus".

Mehr zum Thema

"Rassistische Einstellungen finden sich in allen gesellschaftlichen Klassen, sie werden aber unterschiedlich aggressiv artikuliert", sagt auch der Soziologe Matthias Quent im ntv-Interview. In Umfragen würden junge, häufiger ostdeutsche Männer zu extremen Aussagen tendieren - "was nichts darüber sagt, ob andere vielleicht ähnlich eingestellt, aber etwas angepasster sind", so Quent. Viele würden sich nicht explizit äußern und könnten so ihre rechtsextreme Einstellung besser verstecken.

Die Protagonisten des Sylter Videos haben offenbar keinen Anlass gesehen, sich zu verstecken. Zick erkennt in diesem Verhalten einen neuen, "erlebnis- und unterhaltungsorientierten Rassismus und Rechtsextremismus", der die eigene Einstellung inszeniere und verharmlose. Letztlich habe die Sylter Partygemeinschaft ihre Parolen sogar selbst in den sozialen Medien "zur Selbstinszenierung geteilt, um Aufmerksamkeit und Likes zu bekommen".

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen