Religion oder Sekte? Wo harmlose Spiritualität gefährlich wird


Zeugen Jehovas werben in einer New Yorker U-Bahn-Station um neue Mitglieder.
(Foto: REUTERS)
Religiöse Bewegungen gibt es viele, doch manche werden zu manipulativen Systemen, andere nicht: Ein Blick auf die entscheidenden Warnzeichen, die den Unterschied zwischen spiritueller Gemeinschaft und destruktiver Gruppe ausmachen.
Es ist Sonntagmittag in Salt Lake City, der "Hauptstadt" des Mormonentums. Familien strömen aus den Gottesdiensten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage - besser bekannt als "Mormonen". Die Szene wirkt friedlich. Es könnte jede andere Religionsgemeinschaft sein, die hier ihren Gottesdienst feiert.
Nur wenige Straßenzüge weiter entfernt treffen sich Zeugen Jehovas in ihren Königreichssälen zur Versammlung. Auch hier herrscht eine familiäre Atmosphäre. Und doch werden beide Gruppen nicht nur in der deutschen, sondern auch in der amerikanischen Öffentlichkeit völlig unterschiedlich wahrgenommen und von Experten unterschiedlich bewertet: Die einen gelten in großen Teilen als etablierte Religionsgemeinschaft, die anderen sehen sich immer wieder in der Kritik, eine "Sekte" zu sein.
Aber warum eigentlich? Die Frage, ab wann eine Religion zur "Sekte" wird, beschäftigt nicht nur Betroffene und ihre Angehörigen. Sie ist zu einem komplexen Thema in einer religiös vielfältigen Gesellschaft geworden. Immer wieder entstehen neue spirituelle Bewegungen, und auch viele altgediente Religionsgemeinschaften geben Millionen von Menschen Halt und Orientierung. Gleichzeitig gibt es viele (nicht nur, aber vor allem) religiöse oder ideologische Gruppen, die ihre Mitglieder manipulieren und schädigen. Die Grenze zu ziehen ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint.
Ein Begriff mit historischer Last
Das Wort "Sekte" trägt eine Bürde, die weit in die Vergangenheit reicht. Ursprünglich vom lateinischen "secta" abstammend, bedeutete es schlicht "Richtung" oder "Schule" - völlig wertneutral. Doch bereits im Mittelalter wurde der Begriff von den etablierten Kirchen verwendet, um abweichende Gruppen zu brandmarken. Was als "Häresie" galt, bestimmte die Macht, nicht die Wahrheit.
Diese historische Entwicklung zeigt: Auch das Christentum war einst eine "Sekte" des Judentums. Und auch der reformatorische Aufbruch Martin Luthers wäre nach den damaligen Maßstäben nichts anderes gewesen als die Entstehung einer "Sekte". Die negative Konnotation des Begriffs ist also nicht naturgegeben, sondern historisch gewachsen - und sie verstellt oft den Blick auf die tatsächlichen Probleme.
Heute verwenden Experten den Begriff "Sekte" daher bewusst selten. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages sprach bereits in den 1990er-Jahren von "sogenannten Sekten" und empfahl, sich auf das "Konfliktpotenzial" von Gruppen zu konzentrieren, anstatt sie pauschal zu etikettieren. Diese Herangehensweise ist nicht nur wissenschaftlich sauberer - sie verhindert auch die Stigmatisierung von im Prinzip harmlosen religiösen Gemeinschaften.
Die Mormonen: Von der verfolgten Sekte zur anerkannten Kirche
Die Geschichte der Mormonen steht beispielhaft für diese Dynamik. Als Joseph Smith 1830 seine neue Kirche gründete, wurden die Mitglieder als "gefährliche Sektenmitglieder" verfolgt. Sie flohen von New York nach Ohio, nach Missouri, nach Illinois. Überall stießen sie auf Widerstand, oft gewalttätigen. Smith selbst wurde 1844 von einem Mob ermordet. Unter der Führung von Brigham Young wanderten die Überlebenden schließlich nach Utah aus, wo sie ihre eigene Gesellschaft aufbauten. Seither ist Salt Lake City in Utah so etwas wie das Zentrum der Mormonen.
Was aber machte die Mormonen damals so verdächtig? Es ist eigentlich ganz simpel: Ihre Lehren weichen bis heute stark vom traditionellen Christentum ab. Ein weiteres Testament, fortlaufende Offenbarungen, Geistertaufen für Verstorbene. Vor allem aber praktizierten sie die Polygamie - ein Skandal im Amerika des viktorianischen Zeitalters.
Hinzu kam ihr ausgeprägter Exklusivismus: Die Mormonen beanspruchten, die einzig wahre Kirche auf Erden zu sein, während alle anderen christlichen Gemeinschaften als abgefallen galten. Heute, fast 200 Jahre später, ist die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage eine respektierte Religionsgemeinschaft mit rund 16 Millionen Mitgliedern weltweit. Die Polygamie wurde 1890 offiziell abgeschafft. Der Exklusivismus besteht zwar fort, wird aber innerhalb der Gemeinschaft zunehmend diskutiert und weniger absolut vertreten.
Wenn Gemeinschaft zur Kontrolle wird
Doch nicht alle religiösen Bewegungen entwickeln sich in eine öffnende Richtung. Die Zeugen Jehovas, 1870 von Charles Taze Russell gegründet, stehen heute häufig in der Kritik, eine Sekte zu sein. Während ihre Lehren zunächst unkonventionell, aber harmlos erscheinen mögen, sind es ihre Praktiken, die Alarm auslösen. Ein zentrales Problem liegt zum Beispiel in der rigorosen Auslegung der Lehre vom Kontaktabbruch. Wer die Gemeinschaft kritisiert oder verlässt, wird nicht nur aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen - ihm wird auch jeder Kontakt zu Familienmitgliedern und Freunden innerhalb der Gruppe untersagt.
Diese Praxis, die offiziell "Gemeinschaftsentzug" genannt wird, kann Familien über Jahrzehnte hinweg zerreißen. Eltern sprechen nicht mehr mit ihren Kindern, Geschwister werden zu Fremden. Das perfide: Diese Praxis wird als "liebevolle Tat" bezeichnet, weil sie dazu führen könne, dass der "Missetäter zur Besinnung komme" und wieder zu den Zeugen Jehovas zurückkehre. Hinzu kommt auch die Ablehnung von Bluttransfusionen, auch in lebensbedrohlichen Situationen. Das hat in belegten Fällen schon mehrfach dazu geführt, dass auch Kindern medizinische Versorgung verweigert wurde und sie starben.
Die evangelikale Falle: Wenn Frömmigkeit zum Gefängnis wird
Doch problematische Strukturen finden sich nicht nur bei als "Sekten" gebrandmarkten Gruppen. Auch in Teilen der evangelischen, katholischen oder freikirchlichen Landschaft entstehen Gemeinden, die ihre Mitglieder systematisch kontrollieren und isolieren. In manchen freikirchlichen Gemeinden herrscht beispielsweise ein so extremer Konformitätsdruck, dass Mitglieder jeden Lebensbereich den Vorstellungen der Gemeindeleitung unterordnen müssen.
Meist geht es vor allem auch um rigide sexualethische Vorschriften. Ein Beispiel ist die sogenannte "Purity Culture", die in konservativen evangelikalen Kreisen verbreitet ist. Hier wird Sexualität so stark tabuisiert und mit Scham belegt, dass Jugendliche und junge Erwachsene oft jahrzehntelang unter den psychischen Folgen leiden. Frauen werden auf ihre "Reinheit" reduziert, jede Form der Sexualität außerhalb der Ehe wird im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt. Die Folgen: Angststörungen, Depressionen und die Unfähigkeit, auch in der Ehe eine gesunde Sexualität zu entwickeln.
In solchen Gemeinden wird auch der Umgang mit Kritik zur Machtdemonstration. Wer Fragen stellt oder Zweifel äußert, wird als "rebellisch" oder "vom Teufel verführt" gebrandmarkt. In Extremfällen werden auch hier Familien dazu angehalten, den Kontakt zu "abgefallenen" Mitgliedern abzubrechen - eine Praxis, die sich kaum von der der Zeugen Jehovas unterscheidet.
Die entscheidenden Warnzeichen erkennen
Was unterscheidet also eine harmlose religiöse Gemeinschaft von einer problematischen Gruppe? Es sind nicht die Lehren an sich - auch die absonderlichsten Glaubensvorstellungen können harmlos sein, solange sie niemandem schaden. Wenn etwa die Raelianer glauben, dass wir alle eigentlich Außerirdische sind und die "Götter" einfach Aliens aus anderen Sonnensystemen - dann ist das zunächst unproblematisch. Entscheidend sind vielmehr die Strukturen und Praktiken.
Ein erstes und wichtigstes Warnzeichen ist autoritäre Führung. Wenn ein Guru, Pastor oder Prophet (oder wie im Falle der Zeugen Jehovas: eine sogenannte "Leitende Körperschaft") beansprucht, der einzige Vermittler göttlicher Wahrheit zu sein, sollten alle Alarmglocken läuten. Gesunde religiöse Gemeinschaften kennen Gewaltenteilung, Mitbestimmung und die Möglichkeit, Autoritäten zu hinterfragen. Problematische Gruppen dulden keine Kritik.
Ein zweites Merkmal ist die systematische Isolation. Wenn eine Gruppe ihre Mitglieder dazu drängt, den Kontakt zur Außenwelt zu minimieren oder abzubrechen, dient das nicht, wie oft postuliert, dem spirituellen Wachstum, sondern schlicht und einfach der Kontrolle. Familie und Freunde außerhalb der Gruppe werden als "weltlich", "unrein" oder "gefährlich" dargestellt. Diese Isolation macht die Mitglieder abhängig und erschwert das kritische Hinterfragen der Lehren.
Ein drittes entscheidendes Merkmal ist die finanzielle Ausbeutung. Während Spenden und Zehnten in religiösen Gemeinschaften normal und legitim sind, wird es problematisch, wenn Mitglieder unter Druck gesetzt werden, ihr gesamtes Vermögen abzugeben oder sich für die Gruppe zu verschulden. Besonders perfide wird es, wenn überteuerte Kurse, Seminare oder "Heilungssitzungen" angeboten werden, die angeblich für das Seelenheil unerlässlich sind.
Und ein viertes Warnsignal betrifft den Umgang mit Aussteigern. Gesunde religiöse Gemeinschaften respektieren, wenn Mitglieder gehen möchten. Problematische Gruppen hingegen machen den Ausstieg zur Hölle. Aussteiger werden entweder mit dem genannten Kontaktverbot belegt, oder sie werden sogar diffamiert. In seltenen Extremfällen werden auch ihre Familien unter Druck gesetzt, manchmal werden sie sogar bedroht oder verfolgt. Kurz: Wenn eine Gruppe viel Energie darauf verwendet, Menschen am Gehen zu hindern, anstatt dafür zu sorgen, dass sie gerne und vor allem freiwillig bleiben, dann stimmt etwas grundsätzlich nicht.
Eine Frage der Menschenwürde
Also nicht der Glaube macht eine Gruppe gefährlich, sondern was sie mit ihren Mitgliedern macht. Die Unterscheidung zwischen Religion und destruktiver Gruppe ist letztendlich eine Frage der Menschenwürde. Jeder Mensch hat das Recht auf Glauben, auf Gemeinschaft, auf spirituelle Suche. Aber niemand hat das Recht, diese Bedürfnisse zu missbrauchen, um andere zu kontrollieren oder zu schädigen.
Eine gesunde religiöse Gemeinschaft fördert die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitglieder, stärkt Familien und trägt positiv zur Gesellschaft bei. Eine destruktive Gruppe hingegen schwächt Menschen, zerstört Beziehungen und schadet letztendlich allen Beteiligten - auch sich selbst.
Und da sind wir wieder am Anfang: Natürlich gibt es auch bei den Mormonen Gemeinden, die problematische Züge im gerade genannten Sinn aufweisen. Wie auch bei den hierzulande verbreiteten Kirchen und Freikirchen. Aber bei den Zeugen Jehovas ist das Problem systemisch. Es ist nicht die Ausnahme einzelner Gemeinden, sondern die Regel, die von der obersten Führungsebene vorgegeben und weltweit durchgesetzt wird. Der Gemeinschaftsentzug, die Isolation, die strikte Hierarchie - all das ist nicht das Werk einzelner fehlgeleiteter Pastoren und Gemeindeglieder, sondern offizielle Doktrin.
Eine freie Gesellschaft muss religiöse Vielfalt aushalten können - auch wenn manche Glaubensvorstellungen absurd erscheinen. Aber sie muss auch wachsam bleiben gegenüber Gruppen, die diese Freiheit missbrauchen, um andere zu unterdrücken.
Die Frage "Religion oder Sekte?" ist letztlich die falsche Frage. Die richtige lautet: "Fördert diese Gemeinschaft die Freiheit und Würde ihrer Mitglieder - oder schränkt sie diese ein?" Daran, und nur daran, müssen sich religiöse Bewegungen messen lassen.
Quelle: ntv.de