Panorama

Kindheit als Gefangenschaft Die unsichtbare Gewalt gegen Kinder in Sekten

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Die Kinder werden wie bei den "Zwölf Stämmen" systematisch von der Außenwelt abgeschirmt.

Die Kinder werden wie bei den "Zwölf Stämmen" systematisch von der Außenwelt abgeschirmt.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Manipulation, Isolation und systematischer Missbrauch - Kinder in abgeschotteten, fundamentalistischen Gruppen sind oft Opfer, die niemand sieht. Und sie sind den zerstörerischen Mechanismen dieser Gruppen meist hilflos ausgeliefert.

Sie haben keine Stimme, keine Wahl und keinen Ausweg: Kinder, die in destruktiven religiösen Gruppen - sogenannten "Sekten" - aufwachsen, sind oft die unsichtbaren Opfer religiöser Fanatiker. Während sich die Öffentlichkeit meist auf die spektakulären (Kriminal-)Fälle und die Berichte erwachsener Aussteiger konzentriert, bleibt das Leid der Kinder häufig verborgen.

Dabei ist ihre Situation besonders dramatisch. Während Erwachsene zumindest theoretisch die Möglichkeit haben, eine Gruppe zu verlassen, sind Kinder den Entscheidungen ihrer Eltern und manchmal sogar - je nach Gruppe - den Launen selbsternannter Gurus hilflos ausgeliefert. Sie wachsen oft in einer Realität auf, die von Kontrolle, Angst und Manipulation geprägt ist. Und sie halten das für normal.

Kommt dann doch der Zeitpunkt, an dem Menschen, die in solchen destruktiven Gruppen aufgewachsen sind, aussteigen wollen, wird es für diese Personen oft besonders schwierig. Sie verlieren nicht nur ihre Familie und ihr gesamtes soziales Umfeld, sondern auch ihre komplette Lebenswelt. Alles, was sie kannten, bricht zusammen. Viele beschreiben diesen Moment als "freien Fall" in eine völlig fremde Realität.

Die Mauern der Abschottung

Die Methoden, mit denen destruktive Gruppen Menschen an sich binden, funktionieren bei Kindern besonders gut - weil oft alle ihre Vertrauenspersonen Teil dieser Gruppe sind. Die Mechanismen sind dabei immer ähnlich: Kinder in solchen abgeschotteten Gemeinschaften haben manchmal praktisch keinen oder nur wenig Kontakt zur Außenwelt. Sie dürfen nicht mit anderen Kindern spielen, die nicht zur Gruppe gehören, keine "weltlichen" Freundschaften schließen. In manchen Fällen werden sie sogar von der Schule ferngehalten, wie es etwa bei den "Zwölf Stämmen" der Fall ist - eine Gruppe, die aufgrund der Konflikte mit dem deutschen Staat deshalb bereits nach Tschechien ausgewandert ist.

Diese Abschottung ist kein Zufall, sondern Teil der Ideologie. Sie verhindert, dass die Kinder alternative Lebensweisen kennenlernen und ihre eigene Situation hinterfragen könnten.

Bildung ist in vielen destruktiven Gruppen ein Feindbild. In der inneren Logik eines solchen Systems ist das auch nachvollziehbar: Bildung ist ein Schlüssel zur Selbstermächtigung, zu kritischer Reflexion. Genau das ist in fundamentalistischen Gruppen und Ideologien nicht gewünscht. Und nicht immer äußert sich das so dramatisch wie bei den "Zwölf Stämmen". Bei den Zeugen Jehovas etwa dürfen Kinder zwar zur Schule, aber nur mit Einschränkungen: Bestimmte Fächer sind nicht erwünscht, die Kinder dürfen in der Regel auch nicht mit auf Klassenfahrten. Geburtstagsfeiern sind ohnehin Tabu. Enger Kontakt zu "weltlichen" Kindern ist unerwünscht. Diese systematische Isolation verhindert im schlimmsten Fall die Entwicklung sozialer Kompetenzen und hält die Kinder in einer künstlichen Blase gefangen.

Ein hilfreicher Deutungsrahmen kann hier das sogenannte BITE-Modell sein, das der US-Psychologe Steven Hassan entwickelt hat. Der Name steht für die vier Bereiche, die in solchen Strukturen gezielt kontrolliert werden: Verhalten (Behaviour), Informationen (Information), Gedanken (Thoughts) und Gefühle (Emotions). Besonders bei Kindern in destruktiven Gruppen zeigt sich, wie früh diese Kontrolle einsetzt: Sie lernen von klein auf, was sie denken, fühlen und tun dürfen - und was nicht. Ihre gesamte Persönlichkeit wird von außen geformt, eigenständiges und kritisches Denken gezielt unterdrückt. Viele Menschen, die etwa in der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas aufgewachsen sind, berichten rückblickend, dass sie sich in diesem Modell in erschreckender Genauigkeit wiederfinden.

Wenn Angst und Gewalt zum Erziehungsmittel werden

Vieles davon prägt Kinder in fundamentalistischen und destruktiven Gruppen schon in den ersten Lebensjahren. Diesen Kindern wird oft schon in die Wiege gelegt, dass die Welt ein gefährlicher Ort ist, der Weltuntergang bevorsteht oder ein strafender Gott sie beobachtet. Diese permanente Bedrohung durch Endzeitszenarien oder ein negatives Gottesbild kann eine chronische Angst erzeugen, die eine normale emotionale Entwicklung massiv stört. Eine solche - religiös legitimierte - Angstmacherei ist besonders heimtückisch, weil sie sich gegen jeden rationalen Einwand immunisiert.

Doch in manchen Gruppen gehört nicht nur solche psychische, sondern ganz handfeste körperliche Gewalt zum Alltag der Kinder. Auch hier kann als Beispiel die kleine, radikale Gruppe der "Zwölf Stämme" dienen: Die Prügelstrafe gehört hier ganz selbstverständlich zur Erziehung dazu. Kinder werden mit Ruten geschlagen, wenn es "nötig ist", mehrmals am Tag. Ein Aussteiger berichtete sogar davon, wie er seine acht Monate alte Tochter über anderthalb Stunden festhielt und ihren Kopf auf ihre Brust drückte, weil sie nicht "gehorchte". Diese Gewalt wird religiös legitimiert - Eltern glauben tatsächlich, sie täten etwas Gutes für ihre Kinder - schließlich gäbe es in der Bibel Verse, die auch Gewalt in der Kindererziehung fordern.

So grausam all das bereits klingt - es dürfte doch nur die Spitze eines Eisbergs sein, der noch viel tiefer reicht. Denn was eigentlich gar nicht bezifferbar ist, sind die vielen Kinder, die zum Beispiel aufgrund der Glaubensansichten ihrer Eltern unter mangelnder medizinischer Versorgung leiden, weil in deren Weltbild evidenzbasierte wissenschaftliche Medizin abgelehnt wird und sie stattdessen auf "Glaubensheilung" setzen. Immer wieder gibt es tragische Todesfälle, bei denen Kinder an behandelbaren Krankheiten sterben.

Wenn das Recht an seine Grenzen stößt

Der Kinderschutz steht bei sogenannten Sekten vor einem Dilemma: Einerseits haben Eltern das Recht auf freie Religionsausübung und Kindererziehung, andererseits haben Kinder ein Recht auf Schutz vor Misshandlung. Doch wo verläuft die Grenze? Psychische Gewalt hinterlässt keine sichtbaren Spuren und ist schwer zu beweisen. Oft greifen die Behörden erst ein, wenn bereits körperliche Gewalt dokumentiert ist - für viele Kinder zu spät.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Fall der "Zwölf Stämme" klargestellt: Auch religiös motivierte Gewalt gegen Kinder ist nicht tolerierbar. Das ist ein wichtiges Signal, reicht aber nicht aus. Jugendämter und Familiengerichte brauchen mehr Sensibilität für die oft subtilen Formen des Missbrauchs in religiösen Gemeinschaften.

Die Folgen einer Kindheit in einer destruktiven Gruppe bleiben oft ein Leben lang spürbar. Viele Aussteigerinnen und Aussteiger kämpfen jahrzehntelang mit den Nachwirkungen: Sie haben Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen, können schlecht mit Konflikten umgehen und leiden unter einem zerbrechlichen Selbstwertgefühl. Manche entwickeln chronische Depressionen oder Angststörungen.

Quelle: ntv.de

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