Panorama

Gewalt, Armut, Burnout "Schulbarometer" zeichnet trauriges Bild

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Lehrerin - ein ehemaliger Traumberuf?

Lehrerin - ein ehemaliger Traumberuf?

(Foto: imago images / Panthermedia)

Das "Schulbarometer" der Robert-Bosch-Stiftung bringt alarmierende Ergebnisse. Zustand der Gebäude: marode. Schüler: schlecht ausgerüstet. Lehrer: überlastet. Es besteht jedoch noch Hoffnung. Aber: Es pressiert. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrkräfte benötigen dringend Unterstützung.

Eines gleich vorweg: Schüler und Schülerinnen ebenso wie das Lehrpersonal benötigen Hilfe und Unterstützung, wenn es um das Lernen - und die Lehre - in Deutschland geht. Lehrer wissen immerhin, mit wem sie es tagtäglich zu tun haben: mit Schulkindern - jungen, noch nicht fertigen Menschen. Warum alle so sind, wie sie sind, was die Unterschiede in Regionen ausmacht oder in Bezirken, ob Stadt oder Land, ob "guter Background" oder "Problemhintergrund" - das alles geht aus der von der Robert-Bosch-Stiftung in Auftrag gegebenen, repräsentativen Forsa-Befragung zur Situation in Deutschlands Klassenzimmern hervor.

Angefangen bei der finanziellen Situation der Kinder und ihrer Familien über die dementsprechende Wohnsituation bis hin zur Situation der Lehrenden: Es sieht so aus, als ob wir für alles eine Lösung hätten - für unsere Kinder scheinen wir jedoch nur wenig übrigzuhaben in Deutschland. Fast jede zweite Lehrkraft (47 Prozent der Befragten) sieht an der eigenen Schule ein Problem mit psychischer oder physischer Gewalt in der Schülerschaft. Besonders betroffen sind Schulen in sozial benachteiligter Lage (69 Prozent). Die repräsentative Befragung von Lehrkräften zeigt auch, dass Gewalt an der eigenen Schule das Burnout- und Stressrisiko von Lehrkräften deutlich erhöht.

Es fehlt - an allem

Es fehlt an der notwendigen Ausrüstung der Schüler. Es fehlt das Frühstück, das Pausenbrot, das Mittagessen. Es fehlt das Taschengeld und das Geld für den Schulausflug. Es fehlt an der Erkenntnis, dass ein Kind höchstwahrscheinlich nicht mit ins Museum gehen wird, weil die Familie sich den Eintritt nicht leisten kann und zu stolz - und manchmal auch zu fahrlässig - ist, sich um andere Wege zu kümmern, das Kind an der außerschulischen Bildungsmaßnahme teilhaben zu lassen.

So passiert es immer wieder, dass Kinder noch nie in einer Ausstellung waren, in einem Schwimmbad (geschweige denn schwimmen können), sie waren noch nie im Kino oder im Theater, und sie waren schon gar nicht auf einer Klassenreise und sind in keinem Sportverein. Diese Szenarien stammen nicht aus einem – sogenannten – Dritte-Welt-Land, sondern aus Deutschland. Wo es vielen Kindern tatsächlich an fast allem zu fehlen scheint.

  • 35 Prozent der Lehrkräfte geben als dringendsten Bedarf an der eigenen Schule die Sanierung des Schulgebäudes und Investitionen in die Ausstattung an.
  • 75 Prozent haben eine berufliche Zufriedenheit, 27 Prozent (vor allem junge Lehrende und Frauen) würden jedoch den Beruf wechseln, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.
  • 47 Prozent beobachten psychische oder physische Gewalt unter SchülerInnen.
  • 36 Prozent der Lehrenden fühlen sich mehrmals in der Woche erschöpft.

Die Lehrkräfte pfeifen also oft auf dem letzten Loch: Wenn sie für die Grundbedingungen sorgen müssen – also etwa für Papier und Stifte, etwas zu essen, etwas Ansprache – wie sollen sie ihren "normalen" Unterricht, auf den die anderen Schüler ein Anrecht haben, durchführen? Viele verzweifeln an diesen Aufgaben, noch nie war die Quote derer, die einen Ausstieg aus dem Lehrerberuf suchen, so hoch wie heute. Der große gesellschaftliche Konflikt, in dem sich Deutschland befindet, beginnt tatsächlich bereits auf der Schulbank. Oder, wie Dagmar Wolf, die den Bereich Bildung der Robert Bosch Stiftung leitet, sagt: "Ein dramatisches Ergebnis", denn Kinderarmut ist aus Sicht der Lehrkräfte in allen sozialen Lagen präsenter als im Jahr zuvor.

Heute, am Weltkindertag, zeigen die Zahlen der Studie besorgniserregende Fakten:

  • Jede dritte Lehrkraft gibt an, Kinder und Jugendliche machten sich häufiger Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie als bislang (in sozial benachteiligten Lagen jede zweite Lehrkraft, 48 Prozent).
  • Ebenfalls mehr als jede dritte Lehrkraft (37 Prozent) nimmt fehlendes oder unzureichendes Schulmaterial wie Hefte oder Bücher wahr.
  • Häufiger als früher kommen Schülerinnen und Schüler ohne Frühstück in die Schule (30 Prozent).
  • Ein Viertel der Lehrkräfte berichtet, ihre Schüler nähmen seltener an mehrtägigen Klassenfahrten teil.
  • 16 Prozent stellen häufiger als 2023 fest, dass ihre Schüler das Essensgeld gar nicht oder zu spät bezahlen.

So wie die Lehrer damit zu tun haben, sich über das normal Unterrichtliche zu engagieren – was Zeit kostet – haben viele SchülerInnen damit zu tun, ihre Situation zu vertuschen. Und dementsprechend weniger Zeit, zu lernen. Denn Armut ist für die Betroffenen schambehaftet, und um diesen Zustand zu vertuschen, entwickeln sowohl Eltern als auch Kinder Strategien, um die eigene prekäre Lage nicht öffentlich sichtbar werden zu lassen.

Sie laden beispielsweise keinen Besuch nach Hause ein oder reichen bei außerschulischen und mit Kosten verbundenen Aktivitäten kurzfristig eine Krankmeldung ein. Die Folgen sind, laut Wolf, unübersehbar: "Arme Kinder werden zu oft zu armen Erwachsenen. Dieser Kreislauf muss durchbrochen werden!" Denn die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben hat positive Auswirkungen auf die psychosoziale Gesundheit – dementsprechend negative, wenn Kindern das Geld für diese Teilhabe fehlt.

"Frau Müller muss weg!"

Auch Lehrerinnen und Lehrern wird mehr abverlangt als vor einigen Jahren: Sie müssen, einem Alleinunterhalter gleich, vor Schülern bestehen, die sie im Anschluss an ihren Unterricht auf Plattformen dafür bewerten dürfen. Sie müssen erkennen, wem es woran mangelt. Sie müssen zur Stelle sein, aber auch zurückhaltend und auf keinen Fall übergriffig. Sie sollen dennoch tipptopp vorbereitet sein, ein anständiges Privatleben führen und bitte bloß nicht langweilen oder ungerecht sein. Sonst kommen die Eltern in die Schule – die haben im Internet schließlich einsehen können, dass Frau Müller heute langweilig war und die Hausaufgabe ihres Sprösslings mies bewertet hat. Obwohl die Nachhilfe nicht billig war. Ein Hexenkessel.

Auffallend ist, dass die befragten Lehrkräfte hauptsächlich das Verhalten der Schüler und Schülerinnen nennen, wenn es um die größte Herausforderung in ihrem Beruf geht:

  • Mehr als drei Viertel beobachten Konzentrationsprobleme in ihren Klassen (81 Prozent).
  • Ungefähr ebenso viele klagen über zu starken Onlinegebrauch zum Beispiel durch Handys (79 Prozent), zwei von drei sind es sogar an den Grundschulen (66 Prozent).
  • Jede dritte Lehrkraft (31 Prozent) nimmt Ängste bei den Kindern und Jugendlichen wahr.
  • Die meisten machen sich Sorgen aufgrund fehlender Motivation (70 Prozent) oder Aggressivität (27 Prozent).

Diese Werte haben - im Vergleich zur Corona-Pandemie - zwar abgenommen. Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) spricht dennoch von einer "gefährlichen" Entwicklung und einer "Schande für ein reiches Land wie Deutschland", so der VBE-Bundesvorsitzende Gerhard Brand. Schülerinnen und Schüler gehörten bereits in Corona-Zeiten zu den Hauptleidtragenden - das dürfe sich nun in der Inflation nicht wiederholen.

"Armutsgefährdet" oder vielleicht doch schon arm?

Laut Statistischem Bundesamt gelten knapp 2,2 Millionen der circa 14,3 Millionen schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter 18 Jahren als armutsgefährdet. "Armutsgefährdet" ist man dann, wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat. Betroffen sind vor allem Jungen und Mädchen in alleinerziehenden Familien oder in Familien mit drei und mehr Heranwachsenden. Die Schwelle lag laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr für eine alleinlebende Person bei etwa 1250 Euro netto im Monat. Was da hilft, wenn man nicht einfach nur auf bessere Zeiten warten möchte? Momentan nur gezielte Sozialarbeit. Und die kostet.

Schulbarometer

Mit dem Deutschen Schulbarometer lässt die Robert Bosch Stiftung seit 2019 regelmäßig repräsentative Befragungen zur aktuellen Situation der Schulen in Deutschland durchführen. Für die aktuelle Ausgabe wurden zwischen dem 13. November und 3. Dezember 2023 insgesamt 1.608 Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen in Deutschland vom Meinungsforschungsinstitut forsa befragt.

Anderes Beispiel aus der Studie: Deutschlands Situation in Bezug auf die Entwicklung eines inklusiven Bildungswesens wird als "alarmierend" bezeichnet. Zwar hat das Thema Inklusion eine hohe praktische Relevanz, denn an etwa 80 Prozent der Schulen werden Kinder mit Förderbedarf unterrichtet. Dennoch glauben drei Viertel der Lehrkräfte, dass Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf an Sonder- und Förderschulen besser gefördert werden können als an Regelschulen.

Drei Viertel der Lehrkräfte fühlen sich bei der Umsetzung von Inklusion im schulischen Alltag überfordert. Von den über 1000 befragten Lehrkräften wurde nur jede zehnte Fachkraft (9 Prozent) im Studium ausreichend für einen inklusiven Unterricht vorbereitet – bei QuereinsteigerInnen sind es 17 Prozent. Was heißt das? Dass auch die Lehrkräfte dringend Unterstützung benötigen.

Quelle: ntv.de, mit dpa

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