Ermittler in der Bredouille Staatsanwalt: Anklage im Fall Maddie "ist nicht absehbar"


Madeleine McCann verschwand kurz vor ihrem vierten Geburtstag aus einer Ferienanlage im portugiesischen Praia da Luz.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ist sich absolut sicher, den Verantwortlichen für das Verschwinden der kleinen Madeleine McCann gefunden zuhaben. Seit mittlerweile drei Jahren plädiert sie auf Christian B. als Täter - allerdings ohne dessen Schuld zu beweisen.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat sich regelrecht verbissen. "Wir sind zu 100 Prozent sicher, dass Christian B. der gesuchte Mörder ist", sagt Hans Christian Wolters von der Behörde Ende 2021. Es ist damals das erste Mal, dass Ermittler im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Madeleine McCann von Mord sprechen. Als Wolters und seine Kolleginnen und Kollegen ihren Verdacht gegen Christian B. im Juni 2020 das erste Mal öffentlich machen, scheint es in dem bis dahin aussichtslos wirkenden Fall erstmals einen Durchbruch zu geben.
Der 46-jährige B., der aktuell wegen eines anderen Falles in Haft sitzt, soll für das Verbrechen an Maddie verantwortlich sein. Er soll das Mädchen 2007 aus einer Ferienanlage im portugiesischen Praia da Luz entführt und anschließend getötet haben. Seit nunmehr drei Jahren plädieren die Ermittler aus Braunschweig auf B. als Täter, auch auf Anfrage von ntv.de halten sie an ihrem Verdacht fest. Die Schuld des Verdächtigen haben sie bisher jedoch nicht nachgewiesen. So gibt es, soweit öffentlich bekannt, kaum neue Indizien, geschweige denn Beweise gegen den Deutschen. Auch Maddies Leiche wurde nicht gefunden. Wo ein Ende der quälenden Ungewissheit, vor allem für die Familie des kleinen Mädchens, im Sommer 2020 zum Greifen nahe schien, ist es in den vergangenen Monaten wieder in weite Ferne gerückt.
Die Staatsanwaltschaft könne angesichts laufender Ermittlungen keine näheren Informationen mitteilen. Dies betont Wolters immer wieder, jüngst während der großen Suchaktion am Arade-Stausee in Portugal. In Interviews mit britischen, portugiesischen und deutschen Medien spricht der Staatsanwalt stets lediglich von "neuen Fakten" und "neuen Beweisen", andere Äußerungen klingen gar kryptisch: Die Beweise ließen nur die Schlussfolgerung zu, dass Christian B. der Täter sei, sagte Wolters Ende 2021 dem britischen "Mirror".
Weil der Verdächtige ohnehin wegen anderer Straftaten im Gefängnis sitze, würden sich die Ermittler Zeit nehmen, um so viele Beweise wie möglich zu sammeln. "Wir wollen ihn mit den bestmöglichen Beweisen anklagen", erklärte der Jurist. Die Aussagen der Staatsanwalt wirken beinahe wie ein Versprechen: Auch, wenn es dauern mag, Christian B. wird im Fall der verschwundenen Maddie auf der Anklagebank landen.
Schwache Indizienkette
Das bezweifeln die Verteidiger des Verdächtigen. "Ich gehe generell nicht von einer Anklage aus", erklärt Friedrich Fülscher gegenüber ntv.de. Denn dafür müsste die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht gegen B. im Fall Maddie begründen können. Das Gericht entscheidet über die Eröffnung des Hauptverfahrens. Grünes Licht gibt es nur, wenn die Indizienkette der Ermittlungsbehörde so stark ist, dass eine Verurteilung zumindest wahrscheinlich erscheint. Dies sei, so Fülscher, angesichts der bisher veröffentlichten Indizien "nicht der Fall".
B. hielt sich von 1995 bis 2007, also zur Zeit des Verschwindens von Maddie, regelmäßig an der Algarve auf. Immer wieder brach er dort auch in Ferienanlagen und Hotels ein. Zudem ist der Mann vorbestraft - wegen Vergewaltigung, Kindesmissbrauchs und des Besitzes von Kinderpornografie. Dem Bundeskriminalamt zufolge war sein Handy zur Tatzeit in einer Funkzelle nahe der Ferienanlage der McCanns eingeloggt. Auch hat er für den Abend kein Alibi, wie Wolters mehrfach betonte. All dies macht ihn zweifelsfrei verdächtig. Einen konkreten Bezug zu Maddie stellen die Hinweise jedoch nicht her.
Im Gegensatz zu den Zeugenaussagen. Bekannte des Verdächtigen behaupten, er habe ihnen gegenüber die Tat an dem kleinen Mädchen gestanden. Andere wollen verdächtige Vorgänge beobachtet haben. Höchstwahrscheinlich würden diese Menschen B. auch vor dem Richter belasten. Allerdings haben die Aussagen als Indiz einen Haken: Sie sind der schwächste Beweis vor Gericht - vor allem, wenn die Tat 16 Jahre zurückliegt. Erinnerungen verblassen, tatsächlich Erlebtes verschwimmt mit später Gehörtem, Schilderungen sind oft kaum noch präzise.
"Armutszeugnis für die Staatsanwaltschaft"
Strafverteidiger Johann Schwenn, der B. gemeinsam mit Fülscher vertritt, spricht in einem "Zeit"-Podcast gar von einem "Armutszeugnis für die Staatsanwaltschaft". Sie würde den Eindruck erwecken, eine Anklage im Fall Maddie stehe kurz bevor. Gleichzeitig "scheut sie sich, im Ermittlungsverfahren die Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Verdachtslage zu ermöglichen".
Denn die Ermittler halten sich nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit bedeckt. Auch die Verteidiger von B. erhalten keinerlei Informationen, etwa über den Ermittlungsstand oder gesammelte Indizien gegen ihren Mandanten. "Die Staatsanwaltschaft verweigert die Akteneinsicht noch immer", erklärt Fülscher. Dies sei seiner Auffassung nach zwar rechtswidrig - "die Strafprozessordnung sieht aber leider keine Möglichkeit vor, dagegen im Ermittlungsverfahren vorzugehen". Tatsächlich gibt es erst nach dem Abschluss der Ermittlungen ein umfassendes Recht auf Akteneinsicht durch die Verteidiger. Vorher kann die Staatsanwaltschaft die Akten geheim halten, indem sie sich auf den Schutz ihrer Untersuchungen beruft.
Genau dieses Argument nutzt die Braunschweiger Behörde im Fall von Maddie, wie sie gegenüber ntv.de erklärt. Für den Verteidiger Schwenn ist das in diesem besonderen Fall schwer nachzuvollziehen, vor allem wegen der hohen Medienpräsenz. Es bestehe "ein gewisses Missverhältnis", sagte er der "Zeit". Und zwar "zwischen dem Vorenthalten der Akten auf der einen Seite und der offensiven Medienpolitik der Staatsanwaltschaft auf der anderen Seite".
Ermittler halten an Fall Maddie fest
Dass der öffentliche Druck auf die Behörde im Fall Maddie immens ist, ist kaum zu leugnen. Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt verfolgen die Ermittlungen minutiös. Bei jeder Entwicklung - sei sie noch so klein - entsteht eine Art kollektives Luftanhalten: Steht das Ende in einem der größten Kriminalfälle der vergangenen Jahre womöglich kurz bevor? Die Fallhöhe im Fall Maddie ist demnach riesig. Nicht zuletzt deswegen habe sich jene Ermittlungsbehörde, die gesetzlich zur Objektivität verpflichtet ist, auf seinen Mandanten eingeschossen, macht Schwenn im Podcast deutlich. Man könnte vermuten, so der Verteidiger, "dass sich der Fall Maddie für die Staatsanwaltschaft zu deren Hitlertagebüchern entwickeln könnte".
Nun ist ein angespanntes Verhältnis zwischen Anklagebehörde und der Verteidigung schon naturgemäß nicht ungewöhnlich. Auch gehört es zu den Aufgaben eines Strafverteidigers, Zweifel an den Ermittlungen zu säen. Dennoch lässt sich der Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig allen Widrigkeiten zum Trotz an dem Fall und ihren Ermittlungen um B. festhält, nicht von der Hand weisen. Erst kürzlich entschied das Landgericht Braunschweig, dass die Ermittlungsbehörde nicht für B. zuständig ist.
Der Verdächtige hatte offenbar zuletzt in Sachsen-Anhalt und nicht in Niedersachsen gewohnt - zuständig wäre damit die Staatsanwaltschaft in Magdeburg. Das allerdings wollen die Braunschweiger nicht akzeptieren. Sie legten Beschwerde gegen den Beschluss ein und verkündeten, solange weiter zu ermitteln, bis das Oberlandesgericht erneut über die Zuständigkeit entschieden hat.
Wende durch Stausee-Ermittlungen?
Dass die Braunschweiger trotz unsicherer Kompetenz weiter ermitteln, hat womöglich einen guten Grund. Denn langsam, aber stetig rennt den Ermittlern die Zeit davon. In zwei Jahren wird B. aus dem Gefängnis entlassen. Sollten sich die Indizien der Ermittler im Fall Maddie bis dahin nicht verdichten, wäre B. erst einmal ein freier Mann.
Große Hoffnung legten sowohl die deutschen als auch die portugiesischen Behörden daher in die jüngsten Untersuchungen rund um den Arade-Stausee im Süden Portugals. Auslöser sei die Aussage eines "sehr glaubwürdigen Zeugen" gewesen, wonach B. häufig an dem See nahe der Kleinstadt Silves gewesen sein soll, berichtete die Zeitung "Expresso". Es heißt, den Ermittlern sei es bei der Suche vor allem um Faser- und DNA-Spuren gegangen.
In der Indizienkette der Ermittler wären sie ein wichtiges Glied, gelten sie vor Gericht doch als sicherstes Beweismittel. Genmaterial von B., etwa auf Fetzen des Schlafanzuges von Maddie, würden den Deutschen zweifelsfrei mit dem kleinen Mädchen in Verbindung bringen.
Mittlerweile haben die Ermittler ihre Zelte am Arade-Stausee wieder abgebaut - die Suchaktion wurde nach drei Tagen beendet. Kommende Woche will die Staatsanwaltschaft Braunschweig über die Ergebnisse informieren. Dass diese zu einem Durchbruch führen und die Indizienkette gegen B. stark genug für eine Anklage machen, ist jedoch unwahrscheinlich. Denn gegenüber ntv.de machte Staatsanwalt Wolters bereits klar: "Ein Abschluss der Ermittlungen ist nicht absehbar."
Quelle: ntv.de