Panorama

Orthodoxe und arabische Bürger Warum explodieren Israels Corona-Zahlen?

In den ultraorthodoxen Gemeinschaften laufen die Vorbereitungen auf das Sukkot-Fest. Dann könnte es eine neue Ansteckungswelle geben.

In den ultraorthodoxen Gemeinschaften laufen die Vorbereitungen auf das Sukkot-Fest. Dann könnte es eine neue Ansteckungswelle geben.

(Foto: AP)

Israel meldet alarmierend hohe Corona-Infektionszahlen. Besonders auffällig sind die Infektionsherde in zwei Bevölkerungsgruppen, bei ultraorthodoxen Juden und unter der arabischen Bevölkerung. Das liegt auch an religiösen und politischen Auffassungen.

Lange ist Israel in der Corona-Pandemie relativ glimpflich davon gekommen, nun aber steigen die Infektionszahlen rasant. Am Donnerstag überstieg die Zahl der täglichen Neuinfektionen die Marke von 9000. Dem Gesundheitsministerium in Tel Aviv zufolge ist die Zahl mit 9013 so hoch wie nie zuvor. Mit 124 Neuinfektionen binnen 24 Stunden gab es nach palästinensischen Angaben auch im Gazastreifen einen Rekord. Insgesamt hat Israel mehr als 250.000 Infizierte und mehr als 1600 Tote gemeldet, wobei die Zahlen nicht nach Bevölkerungsgruppen aufgeschlüsselt werden.

Doch der Anstieg kommt nicht unerwartet. Wegen der stetig steigenden Zahlen hatte die Regierung bereits einen zweiten Lockdown beschlossen, der seit dem 18. September gilt. So sollten auch die Feiern zu den wichtigen jüdischen Feiertagen Rosch Haschana und Jom Kippur beschränkt werden. Denn seitdem sind nicht nur Schulen und Kindergärten geschlossen. Auch Hotels, Einkaufszentren, Freizeitstätten und Strände mussten schließen. Restaurants dürfen nur noch außer Haus verkaufen. Lediglich Lebensmitteleinkäufe und Arztbesuche sind weiterhin erlaubt. Die Menschen dürfen sich aber nur noch in Ausnahmefällen weiter als 1000 Meter von ihrem Zuhause entfernen. Der Lockdown wurde gerade noch einmal um drei Tage bis zum 14. Oktober verlängert.

Doch der Riss, der ohnehin durch die israelische Gesellschaft geht, der zwischen Orthodoxen und Säkularen, wird auch beim Umgang mit dem Coronavirus deutlich. Der Coronavirus-Beauftragte der Regierung, Ronni Gamzu, legte Zahlen vor, wonach 40 Prozent der zuletzt positiv getesteten Menschen der ultraorthodoxen Gemeinschaft entstammten. Das wäre die logische Konsequenz von Berichten, denen zufolge sich an Jom Kippur Tausende Gläubige in Synagogen getroffen hatten. Die Zeitung Haaretz berichtete aus der Synagoge der ultraorthodoxen Belz-Gemeinde in Jerusalem, dass dort kaum jemand eine Maske getragen habe. Auch das Abstandsgebot wurde nicht eingehalten.

Eigentlich gelten in Synagogen strenge Abstands- und Maskenregeln. So sollte ermöglicht werden, dass die Synagogen offen bleiben können. Ärzte hatten das kritisiert, erfolglos. Für die Feiertage waren zudem viele Menschen zu ihren Familien zurückgekehrt. Die engen Beziehungen zwischen Familien- und Gemeindemitgliedern sind ein weiterer Risikofaktor für eine Krankheit, deren wirksamstes Gegenmittel die soziale Distanz ist.

Corona-Müdigkeit und alte Differenzen

Schon im israelischen Alltagsbild ist die mangelnde Corona-Disziplin recht deutlich. Die auch im Freien geltende Maskenpflicht wird kaum eingehalten. Innerhalb der ultraorthodoxen Gesellschaft werden die Regeln jedoch noch weniger beachtet oder sogar aktiv gebrochen. Viele streng religiöse Juden leben teilweise in einer Art Parallelwelt und folgen eher den Vorgaben ihrer religiösen Führer als denen des Staates. Deutlich wurde das zuletzt am Streit darüber, ob Schüler der religiösen Schulen einen Corona-Test machen sollen oder nicht. Ein prominenter Rabbiner hatte dazu geraten, die Tests abzulehnen, um Schulschließungen oder Massenquarantänen zu vermeiden. Laut Gesetz müssen Israelis 14 Tage lang in Quarantäne, wenn sie mit einer Person Kontakt hatten, die positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Der Rabbi relativierte seine Aussagen später, doch das Argument, dass nichts das Studium der Thora stören dürfe, wiegt für streng religiöse Juden schwer.

Außerdem fühlten sie sich schon vor Beginn der Krise vom Staat Israel nicht wirklich vertreten. Seit langem gibt es beispielsweise Streit darüber, dass immer weniger Ultraorthodoxe den für sie bereits erheblich modifizierten und eigentlich verpflichtenden Militärdienst absolvieren. In der Corona-Pandemie wird auch das fehlende Vertrauen in die Regierung von Premier Benjamin Netanyahu überdeutlich. Zwar gelten die streng religiösen Parteien als Verbündete von Netanyahu und waren bei Wahlen immer wieder das Zünglein an der Waage. Das heißt aber nicht, dass sich alle strenggläubigen Israelis auch von ihnen repräsentiert fühlen. Immer wieder gibt es Kritik an den Corona-Maßnahmen, wobei unterstellt wird, dass es darum geht, die Orthodoxen zu diskriminieren.

Die religiösen Israelis sind auch deshalb oft schwerer von Infektionen betroffen, weil sie ärmer sind und in dichter bebauten Vierteln leben, als viele andere Israelis. Das verbindet sie mit der zweiten Bevölkerungsgruppe, bei der die Fallzahlen steigen: die arabischen Israelis. Die Behörden machen vor allem Großhochzeiten für die fast ungebremste Ausbreitung des Coronavirus unter ihnen verantwortlich. Auch auf den traditionell mit vielen Menschen gefeierten Eheschließungen werden die öffentlichen Schutzmaßnahmen nicht oder immer weniger eingehalten.

Überraschende Wende

Während der ersten Welle war die arabische Bevölkerung sowohl bei den Infektionszahlen, als auch bei der Sterblichkeit relativ glimpflich davon gekommen. Anfang September kamen israelische Wissenschaftler in einer Studie zu dem Schluss, dass die niedrigen Zahlen sogar im deutlichen Widerspruch zu der Annahme stehen, schlechte sozioökonomische Bedingungen führten beim Coronavirus zu mehr Infektionen und mehr Todesfällen. Als mögliche Faktoren machten die Forscher aus, dass die Älteren in arabischen Familien selten in Altenheimen, sondern meist bei ihren Familien lebten. Damit entfalle ein wesentlicher Risikofaktor für die Ansteckung. Außerdem sei die arabische Bevölkerung überdurchschnittlich jung. Einen weiteren Pluspunkt sehen die Wissenschaftler im solidarischen und sozialen Zusammenhalt der Gemeinschaft und der Tatsache, dass religiöse und politische Führer die Einhaltung strenger Corona-Maßnahmen ausdrücklich befürworteten. So wurden Moscheen und Kirchen geschlossen, als Synagogen noch geöffnet waren.

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Weitere Vorteile ergaben sich aus der Tatsache, dass die Zahl der Menschen, die ins Ausland reisen, in der arabischen Bevölkerung im Vergleich zur allgemeinen israelischen Bevölkerung geringer ist, dass unter der arabischen Bevölkerung sehr viel medizinisches Personal ist, und dass es eine höhere Technikaffinität gebe, die im Lockdown die Verbreitung von Gesundheitsbotschaften ermöglichte. Warum all diese Faktoren nun in der zweiten Welle nicht mehr so eindeutig greifen, ist noch unklar.

Das Gesundheitssystem des Landes gerät jedenfalls angesichts der steigenden Zahlen zunehmend unter Druck. Experten hatten immer wieder 800 Fälle von schwer erkrankten Covid-19-Patienten als kritische Marke für eine Überlastung des Gesundheitssystems genannt. Dem Gesundheits­mi­nisterium zufolge liegt die Zahl längst bei 810.

Quelle: ntv.de

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