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Kindertransporte in der NS-Zeit Wie Hannah Kuhn dem Holocaust entkam

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Bob und Ann Kirk wurden beide 1939 mit dem Zug nach Großbritannien geschickt.

Bob und Ann Kirk wurden beide 1939 mit dem Zug nach Großbritannien geschickt.

(Foto: picture alliance / empics)

Vor 85 Jahren startet in Berlin der erste Kindertransport nach Großbritannien: Etwa 10.000 Kinder werden auf diesem Weg vor dem nationalsozialistischen Massenmord gerettet. Eine Ausstellung des Deutschen Bundestages erzählt in fünf Geschichten von dem ewigen Schwanken zwischen Hoffnung und Trauer.

"Worried as no letters from you. Hannah well." (In Sorge, da keine Post von Ihnen. Hannah gut.) In Großbuchstaben steht die Botschaft auf einem rissigen Stück Papier. Es ist ein Telegramm vom 5. Juni 1940, Absender ist das Britische Rote Kreuz. Die acht Worte sind eine der letzten Nachrichten an Herta und Franz Kuhn. Erst Jahrzehnte später erfährt ihre Tochter Hannah, dass ihre Eltern in Auschwitz ermordet wurden.

Hannah Kuhn ist eines von etwa 10.000 vorwiegend jüdischen Kindern, die in den Jahren 1938 und 1939 mit dem Zug nach Großbritannien geschickt wurden. In einer neun Monate andauernden Rettungsaktion wurden die Minderjährigen aus Deutschland, Österreich und der Tschechischen Republik kurz vor Kriegsbeginn in die Freiheit verstoßen. Es war der Auftakt in ein neues Leben, eine Wiedergeburt vor dem Tod, vor dem man sie bewahren wollte.

Das Telegramm der Familie Kuhn liegt in der Halle des Paul-Löbe-Hauses des Deutschen Bundestages. 2024 jährt sich der Beginn der Kindertransporte zum 85. Mal. Die Ausstellung "I said 'Auf Wiedersehen' - 85 Jahre Kindertransport nach Großbritannien" gedenkt der Rettungsinitiative und der Schicksale der Geretteten und ihrer Hinterbliebenen. Ausgewählte Briefe und Fotografien erzählen die Geschichten von fünf verschiedenen Familien - sie alle eint neben unsäglichem Leid auch das Schwanken zwischen der Hoffnung auf Wiedersehen und der Angst vor ewiger Trennung.

"Das wird ein großes Abenteuer"

Der erste Kindertransport verlässt am Abend des 1. Dezember 1938 Berlin. Einen Tag später kommen rund 200 jüdische Kinder in Großbritannien an. Mit 10 Jahren sitzt auch Hannah Kuhn im April 1939 in einem Zug nach London. Sie wächst als Einzelkind in bürgerlichen Verhältnissen zunächst in Köln, später in Berlin auf. Beide Eltern sind berufstätig. Zu Hause trägt ihre Mutter gerne lilafarbene Samthosen und raucht Pfeife, erzählt Hannah Kuhn in einer ZDF-Dokumentation. Ihr Vater veranstaltet in der großen Wohnung Konzerte mit Freunden, spielt Cello und Flügel.

Mehr als 30 Stunden dauert die Reise nach Großbritannien. Von Berlin in die Niederlande, dann mit der Fähre nach Harwich. "Das wird ein großes Abenteuer, eine große Chance", beteuern Hannah Kuhns Eltern, als sie am Bahnhof stehen. "Wir kommen nach, wenn wir die Papiere haben".

Die Kinder sind oft zu jung, um die Hintergründe ihrer Ausreise zu begreifen. Viele glauben, von ihrer Familie verstoßen zu werden. Wegen der schmerzlichen Szenen am Bahnhof ist es Eltern schon bald untersagt, ihre Kinder auf dem Bahnsteig zu verabschieden. Hannah soll "in zwei Stationen aus dem Fenster sehen". "Sie müssen in ein Taxi gesprungen sein", erzählt Hannah Kuhn 2018 in einem Interview mit dem "Guardian". Winkend stehen Franz und Herta Kuhn am übernächsten Halt am Bahngleis. "Sie haben gewinkt, bis ihnen die Hände abgefallen sind", erinnert sich ihre Tochter. Es ist das letzte Mal, dass sie ihre Eltern sieht.

Eine Karte im Monat, 25 Worte

In Großbritannien angekommen, werden viele der Kinder in Gastfamilien untergebracht. Andere finden in Sammelunterkünften ihre vorübergehende Heimat. Hannah Kuhn wird von einem Schwesternpaar aufgenommen, Millie und Sophie Levy. Im Paul-Löbe-Haus zeigt eine Schwarz-Weiß-Fotografie die drei, eine der Schwestern hält Hannah im Arm. Die Aufnahme stammt aus der privaten Sammlung von Hannah Kuhn.

Über Monate und Jahre hinweg bleiben den getrennten Familien für den Austausch nur Briefe und Postkarten, später das Telegramm. Der Postverkehr zwischen England und dem Deutschen Reich läuft über die Schweiz und das Rote Kreuz. Erlaubt ist eine Karte im Monat mit nicht mehr als 25 Worten.

Die im Paul-Löbe-Haus ausgestellten Bilder und Erinnerungsstücke geben einen vorsichtigen Einblick in eine Zeit, die Leid und Zuversicht, Trennung und Solidarität vereint. Die Schicksale der Familien zeigen, dass Geschichten mit einem glücklichen Ausgang nicht weniger schwer zu ertragen sind als jene, die in hoffnungslosem Grauen enden.

Aus Hannah Kuhn wird Ann Kirk

Mit dem Angriff auf Polen beginnt am Morgen des 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg. Zeitgleich kommen die Rettungsaktionen zum Erliegen. Der letzte offizielle Kindertransport erreicht England am 2. September 1939. In einem Spagat aus Ungewissheit und der vergeblichen Hoffnung, ihre Familien wiederzusehen, bemühen sich die geretteten Kinder in Großbritannien um einen Neuanfang. Sie gehen zur Schule, sollen und wollen sich integrieren. Noch heute berichten Überlebende dabei von einer großen emotionalen Ambivalenz: In die Dankbarkeit mischt sich später das Gefühl von Schuld. Die Schuld, überlebt zu haben. Den 10.000 Geretteten steht der Mord an - nach heutigem Wissensstand - rund anderthalb Millionen Kindern gegenüber.

Nach Ende des Kriegs im Jahr 1945 sehen nur wenige Kinder ihre Familien ein weiteres Mal. Die meisten Spuren verlieren sich in Vernichtungslagern. Auch Hannah Kuhn sieht ihre Eltern nie wieder. Doch sie hat überlebt. Die 95-Jährige heißt heute Ann Kirk. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in London. Auch Bob Kirk wird 1939 mit den Kindertransporten aus Hannover nach England gebracht. Die beiden treffen sich in den späten 1940ern, gründen eine Familie. Beide leisten pädagogische Erinnerungsarbeit, halten Vorträge in Schulklassen. Kommende Generationen sollen ihre Geschichten kennen, müssen wissen, was geschehen ist. Denn ohne Wissen gibt es keine Erinnerung.

Quelle: ntv.de

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