
Das Netzwerk "Wunsiedel ist bunt" ist bis heute aktiv.
(Foto: Privat)
Jahrelang ist das bayerische Wunsiedel Schauplatz von rechtsextremen Aufmärschen. Denn Rudolf Heß, der Stellvertreter von Adolf Hitler, war hier begraben. Doch die Menschen in der Kleinstadt wehren sich - mit Erfolg.
Wunsiedel, eine kleine Stadt im Nordosten Bayerns, ist etwa 30 Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt. Das Städtchen, idyllisch im Fichtelgebirge gelegen, ist vor allem durch die Luisenburg-Festspiele bekannt, die jedes Jahr bis zu 140.000 Besucher anziehen. Auf der ältesten Freilichtbühne Deutschlands werden den Zuschauern jede Menge Theater- und Musicalaufführungen geboten.
Doch es gibt auch eine andere, eine braune Seite. Aus Wunsiedel stammte die Familie eines der fanatischsten Gefolgsleute Adolf Hitlers, des ehemaligen Stellvertreters des "Führers", Rudolf Heß. Bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurde er 1946 zu lebenslanger Haft verurteilt, die er im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau verbüßen musste. Dort starb er am 17. August 1987. Kurz vor seinem Tod hatte Heß den Wunsch geäußert, im Grab seiner Eltern auf dem evangelischen Friedhof in Wunsiedel bestattet zu werden. Heß hatte zwar nie in der Stadt gelebt. Trotzdem wurde sein Wunsch erfüllt.
Dann kamen die Neonazis. In der rechtsextremistischen Szene gilt Heß immer noch als Märtyrer. Als bekannt wurde, dass Heß in Wunsiedel beerdigt werden sollte, besetzte eine Neonazi-Gruppe den Friedhof. Das Ereignis wollten sie nicht verpassen. Ein Jahr später gab es den ersten Neonazi-Gedenkmarsch in Wunsiedel. 150 Extremisten nahmen daran teil, marschierten singend durch die Innenstadt. Den Friedhof hatte die Polizei vorsorglich abgeriegelt.
Eine "braune Stadt"
Von nun an kam Wunsiedel nicht mehr aus den Schlagzeilen. Jedes Jahr versuchten Neonazis, Gedenkveranstaltungen an Heß' Grab abzuhalten. Zwar verboten Gerichte das immer wieder, dennoch galt Wunsiedel als "braune Stadt". Im Jahr 2001 durften sich zum ersten Mal seit 1988 Neonazis wieder ganz legal in Wunsiedel treffen. Bis 2004.
Daran kann sich Svenja nicht erinnern, sie war noch zu klein. Heute gehört sie zu den Sprecherinnen und Sprechern des "Netzwerks Wunsiedel ist bunt", einer Bürgerinitiative, die sich gemeinsam mit anderen gegen die Aufmärsche zur Wehr setzte: "Die Menschen in unserer Stadt verbindet ein gemeinsames Ziel, nämlich, dass hier und nirgendwo Platz für Rechtsextremismus, Rassismus und Diskriminierung ist", sagt sie im Gespräch mit ntv.de. "Ich glaube, dass gerade Wunsiedel ein tolles Beispiel ist, wenn Politik, Verwaltung, Kirchen, Verbände und vor allem die Zivilgesellschaft sich zusammentun und um die beste Idee streiten, die alle gemeinsam tragen können."
Mit viel Kreativität und Mut setzten sich die Menschen in Wunsiedel gegen den braunen Mob durch. 2004 besetzten mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger die Strecke des geplanten Neonazi-Aufmarsches und leisteten zivilen Ungehorsam gegen die Gerichte, die ihn zuvor erlaubt hatten. Damals waren die demokratischen Bürger noch in der Minderheit. Wunsiedel erlebte den zur damaligen Zeit größten Neonazi-Aufmarsch Europas - mit 4000 Teilnehmern.
Doch die Menschen in Wunsiedel ließen sich nicht unterkriegen, protestierten weiter. Und auch die Gerichte sagten: So kann es nicht weitergehen. 2005 verbot das Bundesverfassungsgericht erstmals einen Neonazi-Aufmarsch in Wunsiedel. 2009 erklärte es in seinem "Wunsiedel-Urteil": Versammlungen dürfen verboten werden, wenn dabei der Nationalsozialismus verherrlicht wird.
Der "unfreiwilligste Spendenlauf"
Doch immer wieder nutzten Rechte den Todestag von Rudolf Heß für Versammlungen, trotz Verbot. Und die Bürger in Wunsiedel ließen nicht locker, setzten sich weiter gegen gewaltbereite Neonazis zur Wehr. Svenja erzählt: "Eine große Resonanz erfuhr der 'Unfreiwilligste Spendenlauf Deutschlands' 2014, der inzwischen auch auf der ganzen Welt Nachahmungen gefunden hat. Hier wurde, kurz bevor die Neonazis ihren Aufmarsch gestartet haben, dieser in einen Spendenlauf umgemünzt. Für jeden Meter, den die Rechten gelaufen sind, wurde an die Aussteigerorganisation EXIT gespendet. Sie sind sozusagen gegen sich selbst gelaufen."
Das Medienecho sei riesig gewesen. "Die Aktion war glaube ich wichtig, da es der ganzen berechtigten Ernsthaftigkeit auch etwas Spaß verliehen hat und viele Menschen dadurch auch zu solchen kreativen Formen des Protests einen Zugang gefunden haben", sagt Svenja.
Die Aktion fand Nachahmer. So wollten drei Jahre später, 2017, Neonazis anlässlich des 30. Todestages von Heß in Berlin-Spandau demonstrieren. Dort organisierten Initiativen wie "Berlin gegen Nazis" einen Spendenlauf nach dem Vorbild von Wunsiedel - und nahmen mehrere tausend Euro ein. "Protest heißt für uns, verschiedene Wege zu zeigen, wie man sich für Demokratie und Menschlichkeit einsetzen kann, um den Mut und Verbündete dort zu finden, wo man einschreiten muss", sagt Svenja.
Kaum noch Neonazis
In Wunsiedel ist es ruhig geworden. Neonazis kommen kaum noch. Die Grabstätte der Heß-Familie ist inzwischen aufgelöst. Dafür haben die Nachkommen von Rudolf Heß, die Stadt und die evangelische Kirche gesorgt. Heß' Gebeine wurden exhumiert und im Meer bestattet. Nichts soll mehr an den einstigen Top-Nazi erinnern.
Übrig geblieben ist die Initiative "Wunsiedel ist bunt". Sie setzt sich weiter für Demokratie ein, erzählt Svenja. Denn rechte Gewalt gibt es noch immer in Deutschland. Aber die Menschen in Wunsiedel haben gezeigt, dass es falsch ist, den Kopf in den Sand zu stecken. "Wir müssen die aktuelle Entwicklung in Deutschland wahnsinnig ernst nehmen und dürfen gleichzeitig daran nicht verzweifeln. Dort, wo es vielleicht noch Sinn macht, in Gespräch und Beziehung bleiben. Trotzdem immer, wenn es geht, einschreiten, wenn Unrecht passiert und vor allem: Zivilcourage zeigen."
Quelle: ntv.de