
Çetin Gültekin vor dem Bild seines Bruders Gökhan und anderer Opfer des Anschlags.
(Foto: picture alliance/dpa)
Seit vier Jahren kämpfen die Hinterbliebenen des Terroranschlags von Hanau gegen das Vergessen. In einem Buch erzählt Çetin Gültekin die Lebensgeschichte seines ermordeten Bruders Gökhan - und von der Ignoranz und den Demütigungen, gegen die er seither ankämpfen muss.
Die nüchterne Brutalität der Bundesrepublik Deutschland trifft Çetin Gültekin in der Polizeisporthalle in Hanau mit voller Wucht. In der Nacht hatte es Schüsse gegeben, und diejenigen, die voller Sorge zu den Tatorten geeilt waren, ausharrten im Chaos aus Blaulicht und Blut, hat man schließlich in die Polizeisporthalle gekarrt. Dort sollen sie auf weitere Informationen warten. Basketballkörbe, Bierbänke und ein Einsatzleiter, der die eingepferchten Angehörigen in regelmäßigen Abständen vertröstet. Um fünf Uhr morgens rattert der Beamte dann eine Namensliste herunter, verschwindet und lässt die Anwesenden verzweifelt zurück.
Einer der Namen ist Gökhan Gültekin - einer von neun Menschen, die am 19. Februar 2020 von einem rechtsextremen Attentäter ermordet wurden. Der Mann, dessen Namen Çetin Gültekin nicht in den Mund nimmt, suchte für seine Tat gezielt Orte auf, an denen er Menschen mit Migrationsgeschichte vermutete. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst.
Gökhans Bruder hat gemeinsam mit dem Autor Mutlu Koçak ein Buch geschrieben. In "Geboren, aufgewachsen und ermordet in Deutschland" erzählt Çetin Gültekin vom Grauen der Tatnacht, vom Staatsversagen und vom Kampf der Hinterbliebenen. Aber zuvorderst erzählt es die Lebensgeschichte von Gökhan Gültekin, genannt Gogo, mit allen Höhen und Tiefen.
Ein Gastarbeiter, der blieb
Die Gültekins stammen aus Ostanatolien. Der Vater verlässt die Heimat, um dem deutschen Wirtschaftswunder zuzuarbeiten. Ein sogenannter Gastarbeiter, der bleibt und in Hanau eine Familie gründet. 1974 kommt Çetin zur Welt, acht Jahre später Gökhan. Zwei Jungs, die nicht unbedingt privilegiert, aber unbeschwert aufwachsen. In einer Stadt, in der Rassismus zwar existiert, aber in der sie davon ausgehen, dass ein gemeinsames Zusammenleben möglich ist.
Çetin Gültekin beschreibt Gökhan als einen Menschen, der immer einen Scherz auf den Lippen hat, der Süßigkeiten an die Nachbarskinder verteilt und die ihn dafür lieben. Der aber auch Verlockungen verfällt, auf die schiefe Bahn gerät und zweimal im Knast landet. Eine Krise, die Familie Gültekin gemeinsam übersteht. Gökhan kehrt zurück ins Leben, gründet ein Umzugsunternehmen und eröffnet einen Kiosk. Pflegt seinen kranken Vater, bis dessen Krebs sich überraschend zurückbildet. Erwartet mit seiner großen Liebe ein Kind.
Dann kommt der 19. Februar. Der Attentäter erschießt Gökhan in seinem Kiosk. Der Vater schafft es noch, der Überführung des Leichnams in die Türkei beizuwohnen, doch 38 Tage nach den Morden stirbt auch er. Gökhans Verlobte verliert das Kind.
"Mein Bruder hat vielen Jugendlichen in Hanau den richtigen Weg gezeigt", sagt Çetin Gültekin im Gespräch mit ntv.de. "Er nahm seine Lebensgeschichte als Beleg: Wenn du deinen Abschluss nicht machst, dann hast du keine Chance auf dem Arbeitsmarkt und landest vielleicht im Gefängnis. Durch das Buch bewirkt Gökhan nach seinem Tod weiter Gutes. Und er wird unsterblich, das habe ich ihm an seinem Grab versprochen."
Ein Trauma folgt aufs nächste
Die Tat lässt die Opferfamilien in einen Abgrund stürzen, nur ist da nichts, was ihren Fall hätte abbremsen können. Çetin Gültekin beschreibt, wie nachlässig die Polizei mit ihnen umgegangen ist. Sie haben sie etwa in der Turnhalle warten lassen, obwohl die Namen der Toten längst bekannt gewesen seien. Und er wirft immer wieder die Frage auf, ob nicht-migrantische Familien den gleichen Umgang erfahren hätten.
Die zweite Hälfte des Buches ist eine Aneinanderreihung von Ungereimtheiten, Entwürdigungen und Ignoranz. Gökhans Leichnam sei nach der Obduktion notdürftig mit Klarsichtfolie zusammengehalten worden, schreibt Gültekin, statt eines Abschieds war die rituelle Totenwaschung das nächste Trauma. Die Pathologie bestreitet die Nutzung von Klarsichtfolie bis heute.
Er berichtet von den Politikerinnen und Politikern, die sich blicken ließen. Manche fanden die richtigen Worte, andere nicht. Beim Empfang im Wiesbadener Schloss habe der damalige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier vor den Angehörigen Joghurt gelöffelt und rechte Gesinnungen bei der Polizei relativiert, so erzählt es Gültekin.
Mit der Aufklärung der Tat sollte sich ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag befassen, eingerichtet auf Drängen der Hinterbliebenen. Warum durfte der Attentäter legal Waffen besitzen, trotz bekannter psychischer Krankheit und rechtsextremem Weltbild? Hat die Polizei angeordnet, den Notausgang an einem der Tatorte verschlossen zu halten, um Razzien zu erleichtern? Warum lief der Notruf ins Leere, den Vili Viorel Păun mehrfach wählte, bevor er ermordet wurde? Der Abschlussbericht lässt diese Fragen weitgehend unbeantwortet.
"Alles, was danach kam, nenne ich einen zweiten Anschlag", sagt Çetin Gültekin. "Wir Angehörige sterben jeden Tag. Sie haben es geschafft, dass wir das Leid, den Schmerz und das Elend nur noch mehr fühlen. Das hat alles nur noch schlimmer gemacht."
Kampf gegen das Vergessen
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland reagieren auf rassistische Gewalttaten nicht selten mit jovialem Desinteresse. Doch anders als nach Solingen, Rostock-Lichtenhagen oder den NSU-Morden haben die Angehörigen des Hanau-Attentats es geschafft, sich in der "Initiative 19. Februar" zu organisieren. Sie halten den Druck auf Politik und Behörden aufrecht, übernehmen Bildungsarbeit und ließen mithilfe des Recherchekollektivs "Forensic Architecture" die Tatnacht minutiös rekonstruieren. Vor allem aber haben sie eine neue Gedenkkultur etabliert: Weg von einer Mystifizierung des Täters, hin zu "Say their Names", bei der die Namen, Gesichter und Geschichten der Opfer im Vordergrund stehen.
Der Stolz in Çetin Gültekins Stimme, wenn er über die Errungenschaften der Initiative in den vergangenen vier Jahren spricht, weicht einem Beben, wenn es um die parallele Entwicklung Deutschlands geht. "Als wir nach dem 19. Februar angefangen haben, 'Rassisten raus' oder 'Nazis entwaffnen' zu schreien, lag die AfD in Hessen bei unter zehn Prozent. Jetzt liegt sie bundesweit bei über 20", sagt er. "Damals haben AfD-Politiker Shisha-Bars als kriminelle Orte bezeichnet. Heute spricht die AfD davon, Menschen mit Migrationshintergrund zu remigrieren. Das macht mir Angst."
Hat Deutschland aus Hanau also nichts gelernt? Den Eindruck hat man, betrachtet man die Umfragen, die Stimmung im Land und hört man Çetin Gültekin zu. Aber er kämpft weiter: für das Vermächtnis seines Bruders, gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Erinnern, um zu verändern, gegen alle Widerstände. "Es gibt nichts auf der Welt, was Deutschland nicht schaffen kann. Das hat die Vergangenheit gezeigt", sagt Gültekin. "Aber Deutschland muss es wollen. Solange dem nicht so ist, wird sich auch nach Hanau nicht viel ändern."
Quelle: ntv.de