Machtkampf mit China Wird der Dalai Lama in der freien Welt wiedergeboren?


Der Dalai Lama feiert bald seinen 90. Geburtstag.
(Foto: IMAGO/Pacific Press Agency)
Am Vorabend seines 90. Geburtstags will der Dalai Lama Weichen für die Zukunft Tibets stellen. Seine mit Spannung erwartete Videobotschaft könnte weitreichende religiöse und politische Folgen haben. Denn in der Frage treffen archaische Rituale auf politisches Kalkül.
Schon seit Längerem hat der Dalai Lama angekündigt, dass er sich zu seinem Nachfolger äußern will. Möglicherweise nutzt er dafür ein Treffen der wichtigsten tibetischen Religionsvertreter kurz vor seinem 90. Geburtstag am kommenden Dienstag. Eine angekündigte Videobotschaft wird mit Spannung erwartet. Sie könnte Hinweise auf weitreichende religiöse und politische Weichenstellungen liefern.
Der Dalai Lama selbst wurde 1937 im Alter von zweieinhalb Jahren als Wiedergeburt seines Vorgängers gefunden und anerkannt. Dieser hatte 1933, im Jahr seines Todes, ein Testament hinterlassen, das Hinweise auf seinen Nachfolger enthielt. Entgegen der von China im 18. Jahrhundert eingeführten Praxis, den Namen in einem Losverfahren aus der "Goldenen Urne" zu ziehen, sollte der neue Dalai Lama durch Prophezeiungen und Weissagungen gefunden werden.
Solche Hinweise sind im tibetischen Buddhismus üblich und dienen dazu, den Suchtrupps die Richtung zu weisen, in der sie nach der neuen Inkarnation suchen sollen. Einige konkrete Omen, die nach dem Tod des 13. Dalai Lama beobachtet worden sein sollen, sind überliefert. Demnach soll sich der Kopf des einbalsamierten 13. Dalai Lama immer wieder nach Osten gedreht haben. Außerdem sei an der Ostseite seines Reliquienschreins starker Pilzwuchs aufgetreten, heißt es.
Diese Zeichen wurden von den Mönchen als Indizien gewertet, dass die nächste Inkarnation des Dalai Lama im Osten Tibets zu finden sei. Tatsächlich wurde der 14. Dalai Lama später in Takster, Nordosttibet, geboren. Die Omen und testamentarischen Hinweise wurden der Überlieferung zufolge durch Orakel und Visionen ergänzt. Das Orakel von Nechung und andere spirituelle Quellen nannten demnach nicht nur die Namen der Eltern des zukünftigen Dalai Lama, sondern auch Details zur Heimat der Familie. Hochrangige Mönche und Vertraute des verstorbenen Dalai Lama hätten zudem Visionen gehabt, in denen ihnen Landschaften oder Häuser erschienen, die sie später bei der Suche wiedererkannten.
Religiöse Verortung
Der Dalai Lama berichtete später, es habe drei Kandidaten gegeben, die alle aus der Nähe seines Heimatdorfes stammten. Ein Kind war bei der Ankunft des Suchtrupps bereits gestorben. Die beiden verbliebenen Kinder wurden dann weiteren Prüfungen unterzogen. Der kleine Lhamo Thondup, der später den Namen Tenzin Gyatso erhielt, habe schließlich alle Tests bestanden, die die inkognito reisenden Mönche ihm stellten. Berichten zufolge erkannte der Junge spontan einen als Diener verkleideten hohen Lama als "Lama aus dem Kloster Sera" und wählte mehrere Gegenstände, die dem 13. Dalai Lama gehört hatten, korrekt aus. Erst danach wurde das Kind offiziell als 14. Dalai Lama anerkannt und in die tibetische Hauptstadt Lhasa gebracht. Dort erfolgte im Alter von etwa vier Jahren während des tibetischen Neujahrsfestes die feierliche Inthronisierung im Potala-Palast und später auch die Ausbildung als Mönch und Gelehrter.
Die Lehre von der Wiedergeburt, auch Reinkarnation genannt, ist ein zentrales Element des tibetischen Buddhismus. Sie basiert auf der Annahme, dass das Bewusstsein jedes Lebewesens ohne Anfang und Ende ist. Es geht in diesem Verständnis nicht um Seelenwanderung, vielmehr setzt sich der Bewusstseinsstrom nach dem Tod fort. Es gibt die Überzeugung, dass erleuchtete Meister aus Mitgefühl gezielt wiedergeboren werden, vor allem, um ihre Aufgabe der Weitergabe der Lehre fortzusetzen und anderen beim Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu helfen. Praktiken wie die Meditation des bewussten Sterbens (Phowa) sollen helfen, den Übergang zwischen Tod und Wiedergeburt bewusst zu gestalten.
Im Fall des Dalai Lama vermischen sich jedoch schon immer politische und religiöse Anforderungen. Der jetzige Dalai Lama stammt aus einer großen Familie. Schon sein ältester Bruder Thubten Jigme Norbu, später Taktser Rinpoche, wurde als Reinkarnation eines hohen Lamas anerkannt, ebenso wie später sein jüngster Bruder Tenzin Choegyal, genannt Ngari Rinpoche. Der Respekt für religiöse Würdenträger ist in der tibetischen Gesellschaft tief verwurzelt und prägt das soziale Gefüge. Die anerkannten Reinkarnationen, sogenannte Trülkus, werden als spirituelle Lehrer und Führer angesehen, deren Worte und Handlungen besonderes Gewicht haben.
Gleichzeitig boten seine Familienangehörigen dem jetzigen Dalai Lama während seines Aufwachsens und seiner Ausbildung Schutz und Zugehörigkeit. Er berichtete später, dass er dem mönchischen Leben immer wieder zu seiner Familie "entfloh" und dort beispielsweise auch Fleisch und Eier aß, die ihm eigentlich verboten waren. Seine Brüder waren später auch Teil seines Beraterstabs.
Wiedergeburt des Panchen Lama verschwunden
Die politische Einflussnahme auf das Amt hat eine ebenso lange Geschichte und große Bedeutung, wie nicht zuletzt die Einführung der goldenen Urne zeigt. Schon im 18. Jahrhundert wollte die zentrale chinesische Autorität durch das Losverfahren ihre Kontrolle über Tibet und die wichtigsten religiösen Ämter festigen. Auch hier ist der Hintergrund die hohe Wertschätzung, die der Dalai Lama und andere religiöse Würdenträger in der tibetischen Gesellschaft genießen.
Viele Exil-Tibeter befürchten, dass China die Gelegenheit der Nachfolgersuche nutzen will, um seine Kontrolle über Tibet zu verstärken. Hintergrund dieser Befürchtung ist nicht nur das Gebaren Chinas in Tibet, das seit Jahrzehnten vorrangig dem Ziel dient, die tibetische Kultur auszuradieren, sondern auch die Erfahrung mit der Nachfolge des Panchen Lama, der zweithöchsten religiösen Autorität. Nach dem Tod des 10. Panchen Lama im Jahr 1989 begann die Suche nach seiner Reinkarnation. Eine Suchkommission tibetisch-buddhistischer Mönche des Klosters Trashilhünpo erstellte eine Liste mit potenziellen Kandidaten und übermittelte dem Dalai Lama 1994 eine detaillierte Auswahl samt Fotos. 1995 erkannte dieser daraufhin Gedhun Choekyi Nyima offiziell als 11. Panchen Lama an. Traditionell sind der Dalai Lama und der Panchen Lama eng miteinander verbunden: Jeder spielt seit dem 17. Jahrhundert bei der Identifizierung und Anerkennung der Reinkarnation des jeweils anderen eine maßgebliche Rolle.
Nur drei Tage nach der Bekanntgabe des Namens wurde der damals sechsjährige Junge von chinesischen Behörden entführt und ist seither verschwunden. Seine Familie wurde ebenfalls verschleppt. Bis heute gibt es keine glaubhaften Informationen über ihren Verbleib. Chinesischen Angaben zufolge hatten sich die Eltern ein normales Leben für ihren Sohn gewünscht.
Im Anschluss setzte die chinesische Regierung einen eigenen Kandidaten, Gyaltsen Norbu, als 11. Panchen Lama ein. Dieser wurde durch das Losverfahren der "Goldenen Urne" bestimmt und stammt aus einer regimetreuen Familie. Die Mehrheit der Tibeter und die tibetisch-buddhistische Gemeinschaft erkennen ihn jedoch nicht an. Die letzte bekannte offizielle Stellungnahme der chinesischen Regierung zum Schicksal von Nyima stammt aus dem Jahr 2020. Damals erklärte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Nyima sei "ein Hochschulabsolvent mit einem Job" und weder er noch seine Familie wünschten, in ihrem "gegenwärtigen normalen Leben gestört zu werden".
Chinas Griff nach mehr Einfluss
Der Dalai Lama, der 2011 die politische Führung Tibets abgegeben hat und seitdem nur noch das geistliche Oberhaupt der Tibeter ist, hatte in der Vergangenheit gesagt, sollten die Tibeter an der Institution des Dalai Lama festhalten und einen Nachfolger für ihn wollen, dann müsse dieser "in der freien Welt geboren" sein. Das wurde allgemein als Veto gegen eine von China anerkannte Reinkarnation angesehen. Damit soll sichergestellt werden, dass das nächste spirituelle Oberhaupt der Tibeter kein linientreuer Funktionär ist, der die chinesische Souveränität in Tibet akzeptiert. 2007 hatte China ein Gesetz verabschiedet, das Peking jeden lebenden Buddha genehmigen müsse.
China versucht seit Jahren, den Eindruck zu erwecken, es schütze und bewahre das Erbe des tibetischen Buddhismus. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch werfen der chinesischen Regierung jedoch vor, die tibetische Kultur, Sprache und Religion gezielt zu unterdrücken. Demnach stehen Klöster unter ständiger Überwachung, Nonnen und Mönche werden gezwungen, den Dalai Lama zu verleugnen, religiöse Aktivitäten werden massiv eingeschränkt. Hunderttausende tibetische Kinder werden den Berichten zufolge schon ab dem Alter von vier Jahren von ihren Familien getrennt und in staatlichen Internaten untergebracht. Ziel ist laut UN-Experten ihre "Assimilierung" an die Han-chinesische Kultur.
Für die Tibeterinnen und Tibeter geht es bei den Hinweisen auf den 15. Dalai Lama, der nach bisherigen Aussagen des jetzigen Dalai Lama auch eine Frau sein könnte, deshalb um viel mehr als nur ihre spirituelle Führung.
Quelle: ntv.de