Israelischer Armeesprecher "100 Prozent Kontrolle in Gaza werden wir nicht erreichen"
09.01.2024, 14:19 Uhr Artikel anhören
Palästinenser bergen ein Opfer nach einem Angriff in Rafah im Süden des Gazastreifens. Laut Israels Armeesprecher Arye Shalicar dürfte sich die humanitäre Situation auf beiden Seiten des Konflikts erst bessern, wenn die Hamas so stark geschwächt ist, dass sie Israel nicht mehr bedrohen kann.
(Foto: picture alliance/dpa)
Der Krieg im Gazastreifen könnte nach Einschätzung des israelischen Militärs noch Monate dauern. Im Interview mit ntv.de erläutert Arye Shalicar, was das für die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten bedeutet. Der Sprecher der israelischen Armee erklärt zudem, warum die Libanesen nach Gaza schauen und Druck auf Hisbollah ausüben sollten.
ntv.de: Es heißt, der Krieg im Gazastreifen sei in eine neue Phase eingetreten. Unter anderem hat die israelische Armee Reservisten, die nach dem 7. Oktober einberufen worden waren, erst einmal wieder nach Hause geschickt. Können Sie uns erklären, was das bedeutet? Was ändert sich am militärischen Vorgehen Israels?
Arye Sharuz Shalicar: Im nördlichen Gazastreifen haben wir mittlerweile die Hamas geschlagen. Das heißt, ihre Bataillone in Gaza Stadt, Beit Hanun, Dschabalija und anderen Terrorhochburgen sind besiegt. Parallel sind wir im Süden und im zentralen Gazastreifen im Einsatz - insbesondere in Chan Junis, was eine Terrorhochburg schlechthin ist. Dort und im zentralen Gazastreifen gehen wir jetzt vor allem weiter vor. In der jetzigen Phase werden wir auch anfangen, das unterirdische Tunnelsystem Stück für Stück zu neutralisieren. Bislang haben wir Hunderte Tunnel lokalisiert. In der nächsten Phase müssen wir diese Tunnel zerstören.
Was bedeutet diese neue Phase für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen?
Also in der ersten Phase war uns wichtig, Zivilisten von den Terroristen, soweit es geht, zu trennen. Deswegen war eine der Anstrengungen des israelischen Militärs, etwa mit dem humanitären Korridor, mit der Schutzzone al-Masawi im Süden, mit Warnungen über Telefon, über SMS, über Flyer, die Zivilisten dazu zu bringen, die Kampfzone zu verlassen. Danach haben wir den Kampf aufgenommen, in erster Linie in den Terrorzentren im nördlichen Gazastreifen und nach der Feuerpause auch im südlichen und im zentralen Teil. Jetzt in der nächsten Phase, wollen wir all die Terrorinfrastruktur, die wir in den letzten Wochen und Monaten lokalisiert haben, außer Gefecht setzen. Und das muss natürlich kontrolliert geschehen, sodass man keinen Kollateralschaden hat.
Das bisherige Vorgehen hat enorme Zerstörungen nicht nur der Terrorinfrastruktur, sondern auch der zivilen Infrastruktur verursacht.
Nahezu jedes Krankenhaus, jede Moschee, jede Schule, jeder Kindergarten, sogar der Universitätscampus - alle Infrastrukturen im Gazastreifen, die eigentlich anderen Zwecke dienen sollten, haben eine Doppelidentität, haben eine Schattenseite: All diese Orte wurden von den Terroristen missbraucht und als Operationszentren benutzt. Wenn im Kriegsfall ein Ort von einem Militär oder einer Terrororganisation militärisch benutzt wird, dann ist dieser Ort laut Völkerrecht kein ziviles Objekt mehr, sondern ein legitimes Ziel.
Im Norden hat die israelische Armee das Gebiet weitgehend unter Kontrolle. Kann die Bevölkerung dahin zurückkehren, kann dort eine Art Wiederaufbau beginnen?
Auch im nördlichen Gazastreifen, wo wir die Hamas geschlagen haben, werden nach wie vor auch Raketen abgeschossen werden. Nach wie vor gibt es da eventuell Tunnelöffnungen, die wir noch nicht lokalisiert haben. 100 Prozent Kontrolle werden wir in Gaza wohl nicht erreichen. Dort müssen wir jetzt, wie gesagt, die Terrorinfrastruktur zerstören. Das kann Wochen, vielleicht auch Monate dauern. Im Endeffekt liegt es an der Hamas, ob sie die Geiseln - je früher, desto besser - auf freien Fuß setzt und sich ergibt, statt diese Situation ewig in die Länge zu ziehen. Man fragt sich: Wofür kämpfen die weiter? Warum interessiert sie das Leid der eigenen Bevölkerung nicht? Das ist eine Dschihadi- eine Märtyrerlogik. Sonst würden sie auch nicht selbst nach drei Monaten nach wie vor Raketen auf Israel abfeuern.
Wenn Sie davon ausgehen, dass sich die Kämpfe noch Monate hinziehen: Was heißt das für die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza? Kann sich die Situation in dieser neuen Phase des Krieges zumindest teilweise normalisieren?
Erst einmal: Auch auf israelischer Seite leben Hunderttausende Menschen im Süden und im Norden nicht in ihren eigenen Wohnungen, weil sie evakuiert wurden. Die humanitäre Situation, die ist prekär, sowohl auf der Seite der Palästinenser als auch auf der israelischen Seite. Hinzu kommt, dass die Hamas Tote auf beiden Seiten provoziert, während Israel alles daran setzt, Menschen auf beiden Seiten, die nicht involviert sind, in Kampfhandlungen außen vor zu lassen. Das ist ein asymmetrischer Krieg, dem ein riesiges Massaker hier vorausging. Zudem werden nach wie vor 136 Israelis, darunter alte Menschen, Frauen und Kleinkinder, dort im Gazastreifen festgehalten. Mit dem Blick auf die humanitäre Situation auf beiden Seiten, heißt das, dass sich diese Situation erst bessern wird, wenn der militärische Druck die Hamas so enorm schwächt, dass sie nicht mehr imstande ist, Raketen auf Israel abzufeuern, Terrortunnel zu benutzen und hoffentlich dann auch die Geiseln freilässt.
Ein wesentliches Kriegsziel Israels ist ja, die Geiseln zu befreien. Gehen Sie demnach davon aus, dass es auch noch Monate dauern wird, dieses Ziel zu erreichen?
Unser Einsatz gilt zwei Dingen: einmal der Befreiung der Geiseln. Durch militärischen Druck müssen wir die Hamas dazu bringen, einer Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln zuzustimmen. Solange das nicht auf diplomatischen Wegen gelingt, kämpfen wir weiter und arbeiten uns langsam, aber sicher und so präzise wie möglich weiter im gesamten Gazastreifen vor, um auch das zweite parallele Ziel zu erreichen. Das ist die Zerstörung der Hamas als Terrororganisation, sowohl der führenden Köpfe und der Terroristen, die am Massaker des 7. Oktober beteiligt waren, als auch der Terrorinfrastruktur im Gazastreifen.
Lassen Sie uns auf den zweiten Schauplatz schauen, der aktuell Sorgen bereitet: Israels Grenze zum Libanon.
Was viele nicht auf dem Radar haben: Wir werden von dort seit dem 7. Oktober angegriffen. Über 2000 Raketen wurden aus dem Libanon auf Israel abgefeuert in den letzten drei Monaten. Die Frage, die man stellen sollte, ist: Will Hisbollah - und hinter Hisbollah natürlich das Mullah-Regime im Iran - den Libanon in einen unnötigen Krieg hineinziehen, der eigentlich mit ihnen nichts zu tun hat? Was ist Sinn und Zweck des Beschusses aus dem Libanon seit dem 7. Oktober?
Für Israel stellt sich doch auch die Frage, wie lange man das so hinnehmen will.
Also zum einen gibt es klare rote Linien, die Hisbollah kennt und bislang nicht überschreitet. Zum anderen kann Israel nicht einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen, wenn ungefähr 100.000 Menschen im Land ihre Wohnung nicht betreten können, weil sie dort unter ständigem Raketenbeschuss stehen und weil sie Angst haben, dass dort Hisbollah einmarschiert und ein ähnliches Massaker durchführt wie die Hamas am 7. Oktober. Das haben sie nämlich schon mehrmals erklärt, dass das ihr Ziel ist.
Was für rote Linien gibt es dann noch, die noch nicht überschritten sind?
Eine rote Linie wäre, wenn zum Beispiel ein Raketenangriff eine Schule träfe, einen Kindergarten oder ein Krankenhaus und dort dann Dutzende Menschen getötet würden. Eine andere rote Linie wäre, wenn ein gezielter Langstreckenangriff Tel Aviv zum Beispiel oder Jerusalem treffen sollte oder eine kritische Infrastruktur in Israel. Das sind Dinge, die Hisbollah natürlich weiß. Deswegen macht sie es auch nicht. Zumindest zum jetzigen Zeitpunkt will Hisbollah die Kampfhandlungen auf diesem Level halten. Aber dieses Level ist nicht in unserem Interesse, weil wir natürlich Ruhe wollen an der Nordgrenze.
Was hat Israel für Optionen, um diese Situation zu ändern? Oder folgt aus diesen roten Linien, dass Israel eben doch alles hinnimmt, bis diese überschritten sind?
Bis jetzt ist die Initiative seit dem 7. Oktober ausschließlich in den Händen der Hisbollah. Was wir machen, ist eine Art Nulltoleranzpolitik, gemäß derer wir auf Beschuss präzise antworten. Wir initiieren nichts, wir reagieren nur. Aber irgendwann wird es einen Zeitpunkt geben, an dem Israel dieses Pingpong-Spiel nicht mehr mitmachen wird.
Aber dieser Punkt ist demnach noch nicht erreicht?
Die Entscheidung liegt in den Händen der Politik. Das heißt im Sicherheitskabinett, beim Premierminister, beim Verteidigungsminister. Wenn die Politik entscheidet, dass wir stärker gegen Hisbollah vorgehen, dann wird das Militär dies umsetzen. Das wird natürlich enorme Konsequenzen für den Libanon haben. Jetzt ist die Zeit, dass der Libanon, dass die Libanesen - auch mit Blick in Richtung Gaza - Druck auf Hisbollah ausüben, das Feuer gegen Israel einzustellen.
Heißt das, was man an Zerstörung in Gaza sieht, ist auch eine Warnung für Hisbollah und den Libanon?
Nahezu jedes Gebäude im Norden des Gazastreifens wurde als Terrorinfrastruktur genutzt. Entweder gab es dort Terrortunnel drunter oder Raketen, Abschussrampen oder Waffendepots oder man hat dort aus Fenstern geschossen. Deswegen sehen diese Orte sehr verwüstet aus, weil es Terrorhochburgen waren. Ähnliche Terrorhochburgen hat auch Hisbollah geschaffen: schiitische Dörfer und Städte, wo Hisbollah den kompletten Ort infiltriert und in einen Militärstützpunkt umgeformt hat. Wenn sie weiter aus diesen Orten auf Israel feuern, wird Israel auf diese Orte natürlich zurückschießen. Letztlich werden die Menschen, die an diesen Orten leben, unter der Reaktion Israels leiden. Und das liegt in den Händen der Hisbollah. Wenn sie nicht wollen, dass Menschen auf beiden Seiten der Grenze leiden, sollten sie jetzt das Feuer einstellen.
Mit Arye Sharuz Shalicar sprach Max Borowski.
Quelle: ntv.de