Druck auf Russland Ändert Selenskyj mit dem "Siegesplan" die Ziele der Ukraine?


Hat Selenskyj die Taktik der Ukraine geändert?
(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)
Auf seinem Flug in die USA hat Kiews Staatschef Selenskyj einen "Siegesplan" in der Tasche. Bislang sind kaum Einzelheiten bekannt. Auf jeden Fall soll Russland die Kriegsführung erschwert werden. Doch wie realistisch ist dies und wie soll dieser Plan Moskau an den Verhandlungstisch zwingen?
Auch nach mehr als fünf Jahren als Präsident der Ukraine ist aus dem früheren Schauspieler und Fernsehunternehmer Wolodymyr Selenskyj kein klassischer Politiker geworden. Das ist nicht nur den extremen Umständen des langen Abwehrkrieges gegen Russland geschuldet. Wenn der 49-Jährige in diesen Tagen in den USA unterwegs ist, um unter anderem an der UN-Generalversammlung teilzunehmen, geht es ihm vor allem um eines: Dem amtierenden US-Präsidenten Joe Biden sowie den beiden Präsidentschaftskandidaten Donald Trump und Kamala Harris seinen sogenannten Siegesplan vorzustellen, der kaum in den Rahmen der üblichen internationalen Diplomatie passt.
Dieser Plan ist nicht zu verwechseln mit der Friedensformel Selenskyjs, die im Sommer teilweise auf dem Friedensgipfel in der Schweiz besprochen worden war. Diese beschreibt ein aus zehn Punkten bestehendes strategisches Ziel, das die Zukunft der Ukraine nach Beendigung der Kampfhandlungen behandelte. Es ging dabei aber nicht darum, eine Grundlage für konkrete Gespräche mit Russland zu finden.
Der Siegesplan seinerseits soll aus fünf Punkten bestehen, die konkret noch unbekannt sind. Doch der Kern dieses Plans ist klar: Kiew will die USA und andere westliche Partner davon überzeugen, dass man Russland nur dann zu ernsthaften Gesprächen zwingen kann, wenn es militärisch, wirtschaftlich und politisch maximal unter Druck gerät.
Gespür für einprägsame Begriffe
Der Begriff "Siegesplan" ist in der Ukraine nicht unumstritten. Ein richtiger Sieg ist aus Kiewer Perspektive nämlich schwer zu definieren, während Russland trotz der ukrainischen Operation in der russischen Region Kursk im ukrainischen Bezirk Donezk weiterhin vorankommt, wenn auch langsam und mit enormen Verlusten. Das offizielle Kiew kann derweil unmöglich von der Linie abweichen, das Land in den international anerkannten Grenzen von 1991 wiederherzustellen. Spätestens ab Sommer fiel jedoch auf, dass Selenskyj den Fragen dazu eher auswich und nicht länger darauf bestand, dass die damaligen Grenzen von 1991 unbedingt militärisch zurückerobert werden müssen - auch wenn sich ukrainische Offizielle hierbei einander oft widersprachen.
Jedenfalls scheint die Ukraine in absehbarer Zeit keine ausreichenden Ressourcen zu bekommen, um ihre territoriale Integrität vollständig herzustellen. Deswegen geht es in erster Linie darum, den Preis für diesen Krieg für Russland so in die Höhe zu treiben, dass Kremlchef Wladimir Putin auf den Gedanken kommt, seine Angriffe gegen die Ukraine zumindest zu pausieren, ohne - wie derzeit - völlig unrealistische Vorbedingungen für einen Waffenstillstand zu setzen.
Woher stammt dann aber der Begriff "Siegesplan"? Einerseits ist er auf Selenskyjs Gespür für einprägsame Begriffe und beeindruckende PR-Präsentationen zurückzuführen. In erster Linie ist dies jedoch eine Anspielung auf die im jüngsten US-Gesetz zu Ukraine-Hilfen enthaltende Verpflichtung für die Biden-Regierung, die Strategie des ukrainischen Sieges vorzustellen.
Kritik in der Ukraine
Fraglich ist, ob Selenskyj und sein Team mit der Wortwahl aber nicht unrealistische Erwartungen bei der eigenen Bevölkerung schaffen. Grundsätzlich gibt es in der ukrainischen Gesellschaft nach zweieinhalb Jahren Krieg kaum Illusionen darüber, dass dieser in absehbarer Zeit zu Ende gehen könnte - egal was Selenskyj und andere in Interviews sagen. Es ist unklar, warum die baldige Einstellung der Kampfhandlungen zu annehmbaren Bedingungen für Russland interessant sein könnte. Zumal sich Moskau im langen Abnutzungskrieg gegen die Ukraine aktuell eher in der Position der Stärke sieht.
So wird der Begriff "Siegesplan" selbst von präsidentennahen Akteuren wie dem Star-Politologen Wolodymyr Fessenko, der gelegentlich die Regierung berät, kritisiert. "Es handelt sich nicht um viel mehr als um die schöne Verpackung für die Gesprächsvorgaben für die ukrainische Delegation bei den Verhandlungen in den USA", fasst es der bekannte Publizist Witalij Portnykow zusammen, der Selenskyjs Präsidentschaft insgesamt stets kritisch betrachtet.
Doch während der Inhalt des Siegesplans weitgehend unbekannt ist, gibt es in der Ukraine wenig grundsätzliche Bedenken dagegen. Zunächst geht es Kiew darum, den Bedarf an Waffen, Munition und finanzieller Hilfe für die nächste Zeit zu konkretisieren und zu belegen, um weiter gegen Russland bestehen zu können. Klar ist auch, dass Kiew auf die Erlaubnis bestehen wird, mit weitreichenderen westlichen Waffen Ziele in Russland zu attackieren, um so den Preis für Moskau weiter in die Höhe zu treiben.
Ob der NATO-Beitritt für die Zeit nach dem Krieg, der auch Teil des "Siegesplans" sein soll, aktuell realistisch ist, ist fraglich. Auch dass die Ukraine das Recht bekommt, Russland mit Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow/SCALP oder mit ATACMS zu beschießen, scheint längst nicht ausgemacht. Trotzdem ist es klar, dass die Ukraine diese Erlaubnis dringend braucht, auch wenn Russland seine Flugzeuge schon zum Großteil weiter ins Hinterland verlegt hat. Auch steht wohl außer Frage, dass der NATO-Beitritt der Ukraine die einzige Sicherheitsgarantie für Kiew nach dem Krieg sein kann.
So hat die Ukraine weiter kaum eine andere Wahl, als weiter um das Maximale zu bitten, um auf diesem Weg so viel wie möglich zu erreichen. "Hätte Selenskyj den vorsichtigen Biden nicht so gepusht, wie er es stets machte, hätte die Ukraine wohl nicht mal die Hälfte von dem bereits Geschickten von den USA bekommen", sagte der Politologe Wolodymyr Fessenko jüngst im ukrainischen Fernsehen.
Dass Selenskyj bei seinem aktuellen Besuch in den USA seine Maximalziele erreicht, ist unwahrscheinlich. Möglich aber, dass die Entscheidungen schrittweise getroffen werden. Welchen Erfolg die Reise hatte, wird deswegen erst mit einigem Abstand seriös eingeschätzt werden können.
Quelle: ntv.de