Politik

Reisners Blick auf die Front "Der gescheiterte Raketentest ist für Russland eine Blamage"

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Der Test einer russischen Interkontinental-Rakete vom Typ RS-28, durchgeführt im Jahr 2018. Drei Tests der Russen gingen in den vergangenen Monaten schief.

Der Test einer russischen Interkontinental-Rakete vom Typ RS-28, durchgeführt im Jahr 2018. Drei Tests der Russen gingen in den vergangenen Monaten schief.

(Foto: picture alliance/dpa)

In den vergangenen Tagen hat die Ukraine drei Munitionsdepots in Russland angegriffen - allein in einem wurde Vorrat für zwei bis drei Kriegsmonate zerstört. Zudem scheiterte ein russischer Raketentest. Oberst Reisner erklärt ntv.de, welchen Effekt all das haben könnte - auf dem Schlachtfeld und bei den Ukraine-Unterstützern.

ntv.de: Herr Reisner, die Lage vergangene Woche war vor allem für die ostukrainische Bergbaustadt Wuhledar gefährlich. In der Nähe hatten die Russen eine Bergbau-Mine eingenommen, von der aus sich das Gelände beherrschen lässt. Konnten sie das nutzen?

Markus Reisner: In der vergangenen Woche haben die Russen begonnen, östlich der Stadt von einer Bergbau-Mine zur nächsten vorzustoßen und diese zu besetzen. So sind sie gerade dabei, "hinter" die ukrainischen Stellungen in der Stadt vorzustoßen, denn Wuhledar liegt etwas weiter westlich. Diese Entwicklung hat sich in den letzten zwei Wochen angekündigt, der Westen der Stadt war aber in der Zeit noch immer in ukrainischer Hand. Nun sehen wir, dass russische Kräfte südwestlich von Wuhledar einen Fluss überschritten haben und sich auch aus dieser Richtung der Stadt nähern. Das heißt, hier bewegen sich die Truppen aus mehreren Richtungen wie eine Zange auf die Stadt zu, und Wuhledar droht akut, eingeschlossen zu werden. Man muss davon ausgehen, dass die 72. mechanisierte Brigade, also eine mit Panzern und Kampfschützenpanzern ausgestattete Brigade, das Gebiet nicht wird halten können.

Mit fatalen Auswirkungen?

Für die Versorgungssicherheit an der Front ist Wuhledar nicht so entscheidend wie etwa der umkämpfte Logistik-Knotenpunkt Pokrowsk weiter im Norden. Die erste wichtige Versorgungslinie verläuft erst zehn Kilometer östlich von Wuhledar, also tiefer im ukrainischen Gebiet. Bei Wuhledar ist allerdings der symbolische Wert hoch. Denn im vergangenen Jahr gelang es den Ukrainern hier, sehr massive Angriffe der Russen auf die Stadt abzuwehren.

Wir sprechen von "Stadt", aber Zivilbevölkerung ist da sicher keine mehr vor Ort?

Nur Vereinzelte vielleicht. Diejenigen, die sich geweigert haben, ihre Häuser zu verlassen. Unmittelbar an der Frontlinie sind alle Orte evakuiert worden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Wochenende, in diesem Herbst entscheide sich der weitere Verlauf des Krieges. Verglichen mit vergangener Woche: Ist die Ukraine nicht nur in Wuhledar, sondern auch insgesamt noch stärker unter Druck geraten?

Wir sehen sehr klar, dass die Russen versuchen, vor Beginn der Schlammperiode im Herbst noch ein Ergebnis zu erzielen. Wenn wir einmal mit den vergangenen Monaten vergleichen, nimmt die Zahl der täglichen russischen Bodenangriffe nach ukrainischen Quellen deutlich zu. Im Mai zählten wir 122 Angriffe, im Juni 125, im Juli waren es 143 und im August 145. Nun sind wir im September, und bis letzten Donnerstag hat es von russischer Seite schon 170 Angriffe gegeben. 50 Angriffe mehr als im Frühjahr.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und analysiert jeden Montag bei ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: ntv.de)


Wie sehen diese Attacken aus?

Typisch sind die in kleinen Gruppen vorgetragenen Angriffe, also Sturmtruppen von drei bis zehn Mann. Sie versuchen, in ukrainische Stellungen einzusickern. Mit Soldaten auf Motorrädern erreicht man denselben Effekt auch über größere Distanzen. Dort, wo die kleinen Trupps ihr Ziel, die ukrainischen Stellungen, erreichen, werden mechanisierte Verbände hinterhergeschickt – meist auch in kleineren Gruppen, also drei bis vier Panzer und Kampfschützenpanzer.

Kurz zu diesen kleinen Trupps, die irgendeine Stelle darauf testen müssen, ob man dort durchstoßen kann: Haben die Soldaten eine Chance, ein solches Kommando heil zu überstehen?

Mit diesen kleinen Trupps versucht die russische Armee, wie Wasser in die ukrainische Abwehr einzusickern, so hat das ein ukrainischer Soldat vor kurzem sehr treffend beschrieben. Jede kleine Lücke wird erkannt und man versucht hineinzukommen. Aus russischen Kommentaren in sozialen Medien wissen wir, dass hierfür oft Soldaten eingesetzt werden, die für irgendeinen Vorfall bestraft werden sollen. Zum Beispiel für Alkoholmissbrauch. Diese Soldaten setzt man an vorderster Front ein. Mit Glück überleben sie es oder werden gleich nochmal vorgeschickt. Wenn ein solches Kommando vielversprechend ist, dann folgen auch mal Verbände bis zur Stärke eines Bataillons, also mit 20 bis 30 Fahrzeugen. Videos der ukrainischen Seite zeigen, wie russische Panzerkolonnen versuchen, einen Durchbruch zu erzielen.

Wie erfolgreich sind diese Attacken?

Dank der Wucht solcher Angriffe gelingen den Russen immer wieder Einbrüche, zum Teil sogar bis zu fünf bis sechs Kilometer hinein in die ukrainische Stellung. Bisher waren diese Angriffe aber nicht wirklich nachhaltig. Es reicht nicht für einen massiven Durchbruch. Aber auf der Zeitachse betrachtet ergibt sich daraus – bei hohen Verlusten der Russen – ein langsamer Vormarsch der Kreml-Truppen. Die Quelle Oryx, die auf beiden Seiten belegbare Verluste zählt, meldet auf Seiten der ukrainischen Armee mehr als 60 beschädigte oder ganz zerstörte westliche Kampfpanzer in den letzten Monaten. 140 Schützenpanzer kommen dazu. Das zeigt die Heftigkeit der Angriffe und auch die stete Abnutzung der Ukrainer.

Das klingt nach hohen Verlusten auch bei den Ukrainern.

Das ist eine enorme Zahl, vor allem, wenn man gegenüberstellt, was vom Westen seither geliefert wurde. Das zeigt, der Abnutzungskrieg ist in vollem Gange und es ist nur begrenzt Gerät verfügbar. Wenn Sie sich erinnern: Zu Beginn des Jahres habe ich prognostiziert, dass wir in diesem Jahr vermutlich einen Höhepunkt dieses Krieges sehen werden. Einen Moment, in dem sich entscheiden wird, ob das Ziel der Ukraine, das besetzte Gebiet zurückzuerobern, realistisch ist oder nicht. Denn dieses Ziel muss mit Ressourcen hinterlegt werden. Diese Ressourcen kann die Ukraine nur sehr begrenzt selbst produzieren.

Da hat das Treffen in Ramstein neulich auch keine Perspektive aufgezeigt, oder?

Der Westen sagt weitere Fliegerabwehrsysteme zu, neue Munition, Artillerie. Was aber fehlt, ist schweres Gerät. Selenskyj weist immer wieder darauf hin, dass er für neu gebildete Brigaden schweres Gerät braucht. Neue Kampfpanzer, Kampfschützenpanzer, Bergesysteme, Räumsysteme. Das benötigt die Ukraine dringend für die Verteidigung, noch mehr aber, um nächstes Jahr wieder in die Offensive zu kommen.

Die Ukraine hat ja schon im vergangenen Jahr erkennen müssen, dass sie sich nicht darauf verlassen kann, vom Westen mit dem unterstützt zu werden, was sie tatsächlich zum Kämpfen braucht. Man hat also die eigene Rüstungsproduktion massiv angekurbelt. Wie weit ist das vorangekommen?

Um im großen Stil Munition, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, Drohnen oder Raketen produzieren zu können, benötigt es umfangreiche Fertigungsanlagen. Große Fabrikhallen, Werkzeugmaschinen, Fließbänder und Kräne, eine belastbare konstante Stromversorgung. Es gibt diese "Panzerwerke" nicht mehr, in denen im großen Umfang Panzer oder Kampfschützenpanzer produzieren werden könnten. Entweder der Westen liefert weitere Panzer in großer Zahl, oder die Ukraine hat zu wenig zur Verfügung. Bedenken Sie: In einer Offensive müssten die ukrainischen Truppen alle russischen Kräfte niederkämpfen, um den Raum selbst wieder in Besitz zu nehmen, den man im letzten Jahr verloren hat. Die Ukraine versucht, diese Herausforderung zu kompensieren. Einerseits durch dezentrale Fertigungsanlagen und andererseits durch Zukauf und Beschaffung von relevanten Baugruppen. Ukrainische Ingenieure waren bereits in der Sowjetunion für ihre herausragenden Fähigkeiten bekannt

Mit der Offensive in Kursk hat die ukrainische Armee gezeigt, dass sie dazu punktuell in der Lage ist. Ist das die Botschaft an die westlichen Unterstützer – "Wir können, wenn ihr nur liefert"?

Eine solche Botschaft sendet die Ukraine nicht nur durch die Offensive in Kursk, sondern auch an anderer Stelle. In diesem Monat hat es drei signifikante Angriffe auf russische Munitionslager auf russischem Boden gegeben – am 18. September und am 20. In der Region Tver, in Toropez. Dann noch am 21. September viel weiter südlich in Tychorezk, das liegt im Gebiet von Krasnodar. Alleine in einem der beiden Lager in Tver war, so nimmt man an, der Munitionsbedarf von zwei bis drei Monaten Krieg gelagert. Der wurde damit also zerstört – in etwa allein 750.000 Artilleriegranaten.

Wie effektiv waren die Angriffe?

Sie könnten tatsächlich spürbare Auswirkungen haben auf die Front. Es wird spannend sein zu sehen, ob sich das in den kommenden Wochen auswirkt, vor allem für die nördlichen Frontabschnitte, also gerade in Kursk aber auch in Charkiw.

Wie wurden diese Angriffe geflogen? Kamen Drohnen zum Einsatz?

Welches Waffensystem verwendet wurde, ist noch nicht zu 100 Prozent klar. Die Bandbreite reicht von Drohnen, die Kiew in der Vergangenheit immer wieder bei Angriffen auf Ziele in Russland eingesetzt hat, bis hin zu Marschflugkörpern. In den vergangenen Wochen hat die Ukraine immer wieder verlauten lassen, sie könne nun selbst entwickelte und produzierte Marschflugkörper einsetzen.

Also Raketen, die mit eigenem Antrieb und darum sehr zielgenau fliegen, wie britische Storm Shadow oder SCALP aus Frankreich. Was sagt die russische Seite dazu?

Moskau erklärt, es seien Drohnen gewesen. Die habe man abgeschossen, die herunterfallenden Trümmer hätten dann die Munitionslager entzündet. Diese Theorie ist nicht wahrscheinlich. Man kann davon ausgehen, dass die Ukraine erfolgreich weitreichende Waffensysteme, vermutlich Marschflugkörper, genutzt hat. Das können auch westliche Marschflugkörper gewesen sein, aber hier spekulieren wir, dafür gibt es keine Beweise.

Ist damit aber bewiesen, dass die Ukraine die russischen Truppen strategisch nachhaltig schwächen kann, wenn sie denn die Mittel zur Verfügung hat?

Diese Botschaft kann man herauslesen. Darum würde ich die drei Angriffe im direkten Zusammenhang mit der Reise von Präsident Wolodymyr Selenskyj in die USA sehen. Selenskyj wird dem Vernehmen nach nochmals vehement auf die Erlaubnis drängen, westliche Waffen weit hinter der Front auf russischem Gebiet zu nutzen. Diese drei Angriffe belegen, was damit erreichbar wäre.

Die Ukraine will zeigen, was geht?

Genau: Selenskyj könnte damit argumentieren: Wenn wir genügend weitreichende Waffensysteme hätten mit der Erlaubnis, sie gegen Munitionslager, Kommandostrukturen, Flugplätze einzusetzen, dann könnten wir rasch und im Rahmen der Verhältnismäßigkeit wichtige Ziele treffen. Denn solche Treffer hätten signifikant Einfluss auf den Kriegsverlauf.

Apropos "was geht"... Es gab Meldungen über den gescheiterten Test einer russischen Interkontinentalrakete. Was ist da dran?

Diese Raketen sind potentielle Träger von Atomwaffen. Mit Rakten-Tests will die russische Seite auf die Debatte reagieren über den möglichen Einsatz westlicher Waffen auf russischem Territorium. Tatsächlich ist der letzte Test fehlgeschlagen, ebenso die beiden zuvor. Dank Satellitenaufnahmen sieht man das Ergebnis recht schnell. Die Aufnahmen des letzten Tests zeigen gestochen scharf, dass die Rakete im Silo oder beim Heraustreten aus dem Silo detoniert ist. Damit ist klar, dass der Test gescheitert ist.

Hat der Kreml sich dazu irgendwie geäußert?

Für die russische Seite ist das eine Blamage. Der gescheiterte Test konterkariert die immer wiederkehrenden Drohungen, womöglich Nuklearwaffen einzusetzen, wenn irgendeine "rote Linie" überschritten wird. Aus Moskau gab es dazu keinen Kommentar.

Mit Markus Reisner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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