
An Selbstbewusstsein mangelt es Baerbock nicht.
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Die in Regierungsämtern völlig unerfahrene Annalena Baerbock soll die womöglich einmalige Chance der Grünen aufs Kanzleramt ins Ziel bringen. Das ist riskant, aber konsequent: Die Partei positioniert sich als Kraft der Erneuerung.
Annalena Baerbocks Vorstellungsrede dauert drei Minuten, bis sie vom Allgemeinen aufs Persönliche kommt; auf das, was sie zu diesem vermessenen Wagnis einer Kanzlerkandidatur antreibt: Baerbock erinnert an ihre Teilnahme an der Pariser Klimakonferenz und an den Jubel, als eine zwischenzeitlich nicht mehr für möglich gehaltene Einigung verkündet wurde. "Ich stand in diesem ganzen Getose und neben mir meine kleine Tochter, sechs Monate alt, in ihrem Kinderwagen", sagt Baerbock. Sie habe sich in diesem Moment überlegt, dass 2050 - im Zieljahr des Klimaschutzabkommens - ihre Tochter so alt sein werde wie sie damals: 35 Jahre. Und was bis dahin alles geschafft werden müsse, um die Klimaerwärmung einzugrenzen.
Vier Botschaften stecken in dieser Mini-Anekdote: Baerbock ist für eine Kanzlerkandidatin sensationell jung, sie ist Mutter noch kleiner Kinder, sie macht seit Jahren Klimapolitik, und sie hat das alles schon unter einen Hut gebracht, bevor überhaupt die Frage nach der Vereinbarkeit von Spitzenpolitik und Mutter-Dasein aufkam. Damit ist schon ein guter Teil dessen erzählt, warum sich letztlich Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen durchgesetzt hat und nicht ihr erfahrenerer Co-Bundesvorsitzende Robert Habeck.
Das Establishment sind die anderen
Das im Januar 2018 an die Doppelspitze gewählte Duo hat einander versprochen, die Argumente ihres Ringens um die Kanzlerkandidatur nicht öffentlich zu machen. Nur einen Hinweis erlaubt sich Baerbock: "Natürlich hat auch die Frage der Emanzipation eine zentrale Rolle bei dieser Entscheidung gespielt", sagt die gebürtige Niedersächsin. Das Bundestagswahlprogramm der Grünen hat nach dem Klimaschutz mit dem Feminismus einen zweiten Themenschwerpunkt. Fraglos hätte auch der Feminist Habeck ein gutes Gesicht für dieses Programm abgegeben. Das aber verhinderten die Wettbewerber: SPD und Union schicken zwei Männer ins Rennen, die nicht nur jenseits der 50 sind - Laschet und Scholz sind sogar 60 Jahre und älter - , sondern die seit vielen Jahren in der Spitzenpolitik unterwegs und daher absolutes Establishment sind.
Von diesem Establishment aber wollen sich die Grünen im Bundestagswahlkampf 2021 in Inhalt und Stil absetzen: "Ich trete an für Erneuerung, für den Status quo stehen andere", sagt Baerbock, ohne die (möglichen) Kanzlerkandidaten von Union und SPD beim Namen zu nennen. Baerbocks Unerfahrenheit mit Regierungsämtern ist nicht nur Angriffsfläche, sondern auch Stärke für eine Partei, die dem vom Pandemie-Management enttäuschten Volk einen tiefgreifenden politischen Neustart verspricht; einen vorausschauenderen, intelligenteren und verlässlicheren Staat.
Die Kandidatin als Gesicht des Aufbruchs
Das nämlich ist nach Klimarettung und Feminismus der dritte Ankerpunkt des Grünen- Wahlprogramms: Erneuerung auf allen Ebenen. "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Land einen Neuanfang braucht", formuliert Baerbock. Die Grünen wetten erkennbar auf eine GroKo-Müdigkeit beim Wähler und setzen dagegen ein Aufbruchssignal, das umso stärker wirkt, je frischer das Gesicht der Spitzenkandidatin ist. Diese Strategie ist auch ein Wagnis, insbesondere dann, wenn am Ende des Sommers nach einer erfolgreichen Impfkampagne das allgemeine Urteil über die Pandemie-Politik der Bundesregierung wieder milder ausfallen sollte.
Weil unsicher ist, ob die Pandemie überhaupt öffentliche Wahlkampfauftritte zulassen wird, hilft es auch, dass Baerbock mit ihrem Bundestagsmandat Auftritte auf großer Bühne sicher sind. Diese hatte Baerbock ebenso wie Fernsehauftritte in den vergangenen Monaten dafür genutzt, um die Situation der Familien in der Pandemie in den Mittelpunkt zu rücken: Der Umgang mit Kindern im Kita- oder schulpflichtigen Alter während der vergangenen Monate hat praktisch alle Wähler beschäftigt. Die vielfältigen Verfehlungen etwa beim Fernunterricht und der Betreuung gefährdeter Kinder hatte Baerbock früh auf dem Schirm.
Die konventionellere Politikerin
Interessant ist, darauf hatte die "taz" einmal hingewiesen, dass Baerbock im Vergleich zu Habeck die konventionellere Politikerin ist. Habeck predigt, und hat das auch schon als Umweltminister in Schleswig-Holstein praktiziert, einen neuen Politikstil: nie schlecht über die politische Konkurrenz und stattdessen über eigene Inhalte reden; möglichst viele potenzielle Gegner in Entscheidungen einbinden und zu gemeinsamen Lösungsansätzen kommen. Ganz allgemein: weniger Ellbogen und dafür mehr Empathie in der Spitzenpolitik. Auch Baerbock hat diesen Ansatz verinnerlicht. Er ist die Erfolgsformel des Bundesvorsitzenden-Duos, das die Grünen in neue (Umfrage-)Höhen geführt hat.
Aber die Frau aus Potsdam beherrscht eben auch die klassischen Seitenhiebe; kann oder will sich nicht immer verkneifen, auch einmal auszuteilen. In der Pressekonferenz zu ihrer Kanzlerkandidatur zitiert sie zwar Michelle Obamas berühmtes Motto "When they go low, we go high". Das soll in etwa bedeuten, Politikern, die an niedere Instinkte appellieren, nicht in gleicher Manier zu antworten, sondern sich umso entschiedener um das Gegenteil zu bemühen. Doch auf die Fragen zum Kanzlerstreit der Union sagt Baerbock, CDU/CSU würden als Regierungspartei "wanken" und seien inhaltlich "blank". Sie sagt "Verfilzung", wenn sie die Vergehen einzelner Bundestagsabgeordneter meint. Auch im direkten Umgang mit politischen Gegnern, etwa im Duell mit Friedrich Merz bei Anne Will, hat sich Baerbock in der Vergangenheit aggressiver gezeigt als der oft nachdenklich auftretende Habeck.
So hat sich Baerbock letztlich aufgedrängt als Kanzlerkandidatin: Als vergleichsweise junge, durchsetzungsstarke Frau, die für eine neue, Klima-bewegte Generation steht - und die in der Auseinandersetzung mit etablierten Machtpolitikern den verbalen Faustkampf nicht scheut, ihn sogar ab und an sucht. Sobald die Union ihren Kandidaten in den Ring schickt, kann sich Deutschland im ersten Wahlkampf nach Merkel zumindest auf interessante Auseinandersetzungen einstellen. Diese Neuerung können die Grünen mit der Festlegung auf Baerbock schon einmal für sich verbuchen.
Quelle: ntv.de