
Habeck fühlt sich bereit, Kanzler zu werden.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Keine andere Partei ist so von ihrer historischen Mission getrieben wie die Klima-bewegten Grünen. Unerwartet groß ist ihre Chance, tatsächlich ab Herbst den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Die Vorbereitung darauf läuft bisher beeindruckend.
Ob die Grünen wirklich eine Bundesregierung anführen sollten, ist eine nur subjektiv zu beantwortende Frage. Ob die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock oder Robert Habeck den Ansprüchen ans Bundeskanzleramt intellektuell und als Führungspersönlichkeiten gewachsen sind? Das vermag niemand im Vorhinein zu beurteilen. Sicher sagen lässt sich nur eines: Keine andere Bundestagspartei zeigt sich derzeit so gut vorbereitet, im Herbst Verantwortung für dieses Land zu übernehmen.
Es kommt nur selten vor, dass deutsche Politiker der Ruf der Geschichte ereilt, wenn ihre Partei nicht das große C im Namen führt. Das macht die historische Chance der Grünen so bedeutsam: Wenn sie am Montag erstmals in ihrer 40-jährigen Geschichte eine Kanzlerkandidatin oder einen Kanzlerkandidaten präsentieren, haben sie realistische Aussichten, im Herbst tatsächlich stärkste Kraft im Deutschen Bundestag zu werden. So ein Momentum kommt vielleicht nie wieder und kann mit etwas Pech und Pannen schon im Sommer, noch vor der Wahl, passé sein. Die von ihrer historischen Aufgabe, die Klimakrise in den Griff zu bekommen, getriebene Partei ist ihrem Ziel näher denn je, kann aber auf den besonders schwierigen letzten Metern noch alles verstolpern.
Die gegenwärtige Stärke der Grünen ist zunächst einmal die Schwäche der anderen: Der SPD gelingt es nicht, trotz gründlicher programmatischer Vorbereitung, frühzeitiger Festlegung auf den einzigen halbwegs aussichtsreichen Kanzlerkandidaten und einem über Jahre ungekannten Frieden an ihrer Spitze, Anerkennung beim Wähler zu finden. Die Union wiederum zerlegt sich seit der vergangenen Bundestagswahl selbst - zunächst schleichend, seit einem Jahr schneller und schneller. Zugleich haben die "Fridays for Future"-Bewegung und objektiv beobachtbare Veränderungen von Klima und Umwelt die politische Agenda zugunsten der Grünen verändert.
Unbeirrt durch die Pandemie
Die günstigen Rahmenbedingungen erklären das stabile Umfragehoch aber nur zum Teil, weil Vorlagen auch verwandelt gehören. Zumal vor einem Jahr, zu Beginn der Corona-Krise, schon einmal alles zu Ende zu sein schien, als die Stunde der Exekutive schlug und die Zustimmungswerte der Grünen über Monate auf SPD-Niveau einbrachen. Die Partei behielt ihren vor der Pandemie eingeschlagenen Kurs einer konstruktiven, sachorientierten Grundhaltung bei und schloss nebenher ihren Programmprozess ab. In den Umfragen ging es konstant wieder nach oben und schließlich in neue Höhen.
Was auch immer wieder aus der Partei zu hören ist: Dieser Zustand ist das Verdienst ihrer beiden Vorgesetzten, die ihren Mitstreitern ja auch Dinge zugemutet haben. Dass die Grünen mehr denn je kompatibel mit der Union sind und in deren Wählerlager fischen, hat auch damit zu tun, dass die Partei unter Baerbock und Habeck anschlussfähiger in alle Milieus geworden ist. Die Parteispitze will kein radikales Auftreten, weder im Ton noch im Inhalt, weil das den Weg in die Regierung versperrt, wo sie dann vieles radikal anders machen möchte.
Die Grünen haben sich deshalb weiter mittig positioniert. Nicht so sehr, dass ihr Markenkern Umwelt- und Klimaschutz verloren wäre, genug aber, um radikalere Klima-Aktivisten zur Gründung einer neuen Partei, der Klima-Liste, zu motivieren. Der Sound der Grünen - früher laut, schrill und vielstimmig - ist ein anderer geworden. Die Grünen sind nicht Underground, sondern Pop; mit zwei Lead-Sängern im Spotlight, hinter die der Rest bereitwillig zurücktritt. Dass dieser Wandel bisher weitgehend reibungslos verläuft, lebt vom Versprechen auf Erfolg.
Baerbock und Habeck wollen etwas beweisen
Exemplarisch ist die neue Seriosität bei der K-Frage zu beobachten, die von allen auf dem Weg zur Bundestagswahl zur klärenden Themen mit die größte Sprengkraft besitzt - wie derzeit bei der Union zu beobachten ist. Bei den Grünen hingegen hält sich die gesamte Partei aus der Entscheidung heraus. Nicht ein Mandatsträger positioniert sich öffentlich oder macht Stimmung gegenüber Journalisten, es gibt keine Lagerbildung wie noch zu Zeiten von Fundis und Realos, keine "Schmutzeleien" und auch keine Kränkungen sind zu vernehmen.
Baerbock und Habeck beantworten seit einem halben mit stoischer Freundlichkeit die ewig gleichen Pressefragen hierzu. Sie wollen beweisen, dass Politik auch anders gehen kann; dass Konkurrenz nicht zwingend zu Feindschaft führt und Ehrgeiz nicht ausschließt, das eigene Ego auch mal hintenanzustellen. Nachdem die Grünen das Modell der Doppelspitze eingeführt haben, das - in dieser Reihenfolge - später von Linken, AfD und SPD kopiert wurde, sind es auch die Grünen, die das erste wirklich harmonierende Spitzen-Duo auf Bundesebene etabliert haben.
Die Partei erntet in den Umfragen das Glück des Tüchtigen, auch weil ihr Personal als einzige der drei Mitte-Parteien nicht von bald acht oder gar sechzehn Regierungsjahren am Stück verbraucht ist. Den Sozialdemokraten fällt es schwer, den Menschen zu vermitteln, dass mit einem Bundeskanzler Olaf Scholz eine völlig andere SPD regieren würde als die, die sie schon kennen. Die Union wiederum hatte bisher vor allem auf den Nimbus der Kanzlerpartei gesetzt. Nun aber haben Armin Laschet und Markus Söder einander öffentlich das fehlende Format zum Merkel-Erben bescheinigt, wovon auch beim Sieger des Duells etwas hängen bleiben wird. Auch, was sie selbst nicht beeinflussen können, läuft für die Grünen.
Die Konkurrenz zollt Respekt
Das ist aber alles nichts wert, wenn nach dem 26. September nicht mindestens ein großer Teil der Regierungsbank, am besten aber die Regierungsführung winkt. Die Aussichten im Frühjahr 2021 sind derart glänzend, dass eine neue runde Opposition oder auch die Rolle eines vergleichsweise kleinen Koalitionspartners der Union erheblich Sprengkraft bergen: Dann könnte sich in der Partei auf allen Ebenen Enttäuschung Bahn brechen und das disziplinierte Stillhalten zur Wahrung der Regierungschancen ein jähes Ende haben.
Umso größer ist der Druck, die sich jetzt bietende Chance zu nutzen. Ab Montag trägt eine oder einer der beiden die größere Last; steht als Kanzlerkandidatin oder -kandidat exponierter als je zuvor im Sturm der öffentlichen Meinung. Angriffsflächen bieten beide, der sich zuweilen in philosophischen Ausflügen verheddernde Habeck genauso wie die in Regierungsämtern völlig unerfahrene Baerbock. Dass sich beide zutrauen, die historische Mission ihrer Partei zu vollenden, ist mindestens selbstbewusst, nötigt aber auch Respekt ab.
Den zollt jetzt schon die politische Konkurrenz: Union und SPD verlieren in Umfragen stetig Wähler an die Grünen und empfehlen sich notgedrungen wahlweise als die wirtschaftskompatiblere oder sozialere Klimapartei. Die AfD mobilisiert ihre Klientel, indem sie apokalyptische Bilder einer öko-sozialistischen Machtübernahme an die Wand malt. Dass die Gesamtsituation auch auf Spitzen-Grüne Eindruck macht, geben sie in nicht-öffentlichen Gesprächen zu. Wobei der Respekt überwiegt, nicht die Angst. Wenn die Geschichte anruft, muss eine Partei vorbereitet sein, den Hörer abzunehmen. Am Montag weiß Deutschland, ob dann am anderen Ende die Stimme von Annalena Baerbock oder Robert Habeck erklingt- immer voraussetzt, es klingelt tatsächlich.
Quelle: ntv.de