Politik

Ukraine-Besucher unter Beschuss Bei Luftalarm bleiben noch 15 Minuten

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Erst heulen die Sirenen auf, dann folgt der Alarm auf dem Handy.

Erst heulen die Sirenen auf, dann folgt der Alarm auf dem Handy.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Eine Gruppe von Deutschen zu Besuch in Kiew: eine Stadt unter Beschuss, sechsmal Luftalarm am Tag. Die Route der Drohnen müssen auch sie ständig verfolgen. Über eine Stadt, die standhält, und das, was ihr im nahenden Winter droht.

Der Ton der Sirene dringt durch die Luft. Eine spärlich beleuchtete Seitenstraße in Kiews Innenstadt, hübsche Altbauten und Kopfsteinpflaster. Plötzlich aber beherrscht dieser schnarrende, ausgedehnte Ton alles. Er schwillt an, sinkt ab, schwillt wieder an. Die Gruppe, die eben noch plaudernd durch den Nieselregen lief, bleibt stehen. Fünf Handys springen an, senden denselben Ton, lauter, aggressiver: Luftalarm. Fünffach beschwört eine Stimme aus den Telefonen, sofort den nächsten Schutzraum aufzusuchen, die Bedrohung nicht zu ignorieren. "Deine Selbstüberschätzung macht dich verletzlich."

Die russischen Drohnen kommen meist aus dem Norden. Flakscheinwerfer suchen den Himmel ab.

Die russischen Drohnen kommen meist aus dem Norden. Flakscheinwerfer suchen den Himmel ab.

(Foto: privat)

Kiew ist nicht in Frontnähe. Was auch immer die Russen Tödliches in den Himmel schicken, es wird eine Weile unterwegs sein, um die Hauptstadt zu erreichen. Meldet die Luftwaffe hier Alarm, bleibt den Menschen in etwa eine Viertelstunde, um den Schutzraum aufzusuchen. Wenig Zeit, wenn man Kinder wecken, anziehen und zur nächsten Metrostation laufen muss. Viel Zeit im Vergleich zu Charkiw, weiter östlich gelegen: Dort können die ersten Geschosse nach 45 Sekunden Sirene einschlagen.

Jede Nacht im Luftschutzkeller? Geht nicht.

Es ist nicht der erste Alarm in Kiew an diesem Tag. Rechnet man alle seit Beginn der russischen Vollinvasion zusammen, so haben die Hauptstädter in diesem Krieg anderthalb Monate im Luftschutzkeller gesessen. Wie sehr Russlands Luftattacken das ganze Land zermürben? Anderthalb Monate im Luftschutzkeller können eine Antwort auf diese Frage geben.

Schickt Putins Armee Kampfdrohnen gegen Kiew, dann erreichen sie von Norden aus die Stadt. Dann färbt sich der Himmel dort orange vom Licht der suchenden Flakscheinwerfer.

Drei Drohnen sind es diesmal, und der Luftschutzkeller im Hotel ist bald erreicht. Ein aus russischer Sicht völlig nebensächlicher Angriff, kostengünstig, ohne Aufwand. Aber Sirene und Hunderttausende Warn-Apps springen an. Mit einem Schlag sind in der 3,6-Millionen-Metropole alle wach, die für ihr eigenes Überleben, vielleicht auch noch für die Sicherheit von Partnern und Kindern, Verantwortung tragen.

Ließe sich das durchhalten? Jede Nacht bei Alarm im Keller Schutz zu suchen, in die Tiefgarage oder gar bis zur U-Bahn-Station zu laufen? Klares Nein. Körperlich auf Dauer nicht zu stemmen. Abwägen ist also ein Muss. Viele Kiewer nutzen die Hinweise von Militärbloggern. Via Telegram verbreiten diese in Windeseile und detailliert, aus welcher Richtung die russischen Waffen einfliegen, später dann, über welchen Stadtteilen sie kreisen. Scheint die Gefahr entfernt genug, verzichten viele auf den Schutz unter Tage.

Die tödlichen Luftwaffen erreichen Kiew auch in dieser Nacht aus dem Norden.

Die tödlichen Luftwaffen erreichen Kiew auch in dieser Nacht aus dem Norden.

(Foto: Ukrainische Luftwaffe, Screenshot)

"300 Menschenleben haben die Luftangriffe auf Kiew gekostet", seit im Februar 2022 Russland seine Vollinvasion begann. "30 der Toten waren Kinder." So bilanziert Vitali Klitschko die vergangenen dreieinhalb Jahre. Kiews Bürgermeister will ein paar Botschaften loswerden, wenn deutscher Besuch ins Rathaus kommt. Die Grünen-Vorsitzende Franziska Brantner ist mit dem Nachtzug aus Polen angereist und trifft den Ex-Boxstar in seinem Büro.

1800-mal heulte die Sirene in den vergangenen 12 Monaten durch die Stadt, laut Klitschko. Macht im Durchschnitt fünfmal Alarm in 24 Stunden. Wie das den Tag zerreißt, spürt die Delegation um die Politikerin gerade selbst.

Schlägt die Warn-App an, heult die Sirene, dann müssen auch die Deutschen ab diesem Moment die Flugroute der russischen Waffen in den Blick nehmen. Ein erfahrener Kollege aus dem Grünen-Team verfolgt die Militär-Kanäle und bringt die Gruppe immer wieder auf den neuesten Stand.

Wo ist der nächste Schutzraum?

Sind es "nur" Drohnen oder schicken die Russen Marschflugkörper und ballistische Raketen hinterher? Die wären für die Flugabwehr die weitaus größere Herausforderung. Erlaubt also die momentane Gefahrenlage eine Fahrt durch die Stadt zum nächsten Termin? Kann der Gesprächspartner überhaupt zum Treffpunkt kommen? Falls sich die Lage verschärft: Wo wäre entlang der Strecke der nächste Schutzraum? УКРИТТЯ – so schreiben die Kiewer das englische Shelter in Kyrillisch auf die Schilder, die an Häuserecken den Weg zum nächsten Schutzkeller weisen.

Russland skaliert seine Luftangriffe auf das zivile Leben, das lässt sich in Kiew hautnah erfahren und es lässt sich auch statistisch belegen. Schaffte die Kreml-Armee im Juni noch maximal 500 Attacken in einer Nacht, so meldet der ukrainische Generalstab in manchen Nächten nun bis zu 800. Mit dem Ausbau der eigenen Produktion für Kampfdrohnen schöpfen die Russen aus dem Vollen.

Alle paar Tage setzen sie eine Armada an tödlichen Flugkörpern frei. Im Schwarm, um die ukrainische Fliegerabwehr zu überfordern. Gelingt das, dann dringen parallel dazu schlagkräftige Raketen durch den Schutzschirm. Eine Häuserruine nahe des Zentrums zeugt davon, wie im Sommer eine ballistische Rakete senkrecht die neun Geschosse eines Wohnblocks durchschlug, bis hinunter in den Keller. Dort hatten die Bewohner Schutz gesucht. 23 starben.

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Was ein russischer Treffer bedeutet, wird derzeit an vielen Orten sichtbar. Eine Drohne knallte in ein Mehrfamilienhaus, erst am letzten Wochenende: Zwar sind alle geborstenen Fenster schon mit Spanplatten verrammelt, viele Trümmer weggeräumt. Das schwarze Loch jedoch wird noch lange in der Fassade klaffen und die Fotos, Blumen und an der Hauswand aufgereihten Kuscheltiere zeugen vom Alter des Mädchens, das hier vor sieben Tagen zu Tode kam: Olexandra, zwölf Jahre.

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(Foto: privat)

Noch halten die Kiewer stand. Cafés und Bars scheinen gut besucht und die Zeit bis zur nächtlichen Ausgangssperre wird gemeinsam genutzt. Eine junge Mutter berichtet, der geplante Umzug ihrer Familie finde leider nicht statt, weil das neue Haus, fast fertig renoviert, letzten Sonntag unter einer Drohne zusammenbrach.

"Wir wohnten dort noch nicht, weil der Tischler mit der Küche nicht vorankam", erzählt sie. "Wäre er schneller gewesen, dann wären wir jetzt vermutlich tot." Sie zeigt das Handy-Video, das ihr Mann auf Instagram gepostet hat: ein Trümmerhaufen, wo vor einer Woche noch das Haus stand.

Trotzdem geht die junge Frau zur Arbeit. Weitermachen, standhalten, das ist die Maxime. Doch wird diese Haltung, die der russischen Zerstörungswut trotzt, auch den kommenden Winter überstehen?

Licht ging schon oft aus. Werden bald die Ersten erfrieren?

"Die Hauptbedrohung für die nächsten Monate kommt aus der Luft", bestätigt Franziska Brantner nach 48 Stunden und vielen Gesprächen in Kiew. "Die russische Strategie richtet sich jetzt auch stark darauf aus, die Gasinfrastruktur lahmzulegen. Die hatte man bislang noch nicht so im Visier. Darum ging in Kiew schon oft das Licht aus, aber die Menschen mussten nicht erfrieren."

Die grüne Energieexpertin befürchtet, dass dieser Winter anders wird - und Fachleute vor Ort teilen die Sorge. Denn für die Ukraine ist Gas die Heizquelle schlechthin. "Die russische Seite weiß genau, wo zum Beispiel die entscheidenden Verdichterstationen stehen. Sie hat das Netz zu Zeiten der Sowjetunion selbst geplant."

Die russischen Luftschläge einer Nacht - Kiew kommt dabei noch gut weg.

Die russischen Luftschläge einer Nacht - Kiew kommt dabei noch gut weg.

(Foto: Ukrainische Luftwaffe, Screenshot)

Zu den Attacken auf die Gasversorgung kommen Angriffe auf das Stromnetz. Die gab es auch in den vergangenen Wintern und meist konnte man die Schäden gut überbrücken. "Inzwischen gehen die Russen jedoch viel gezielter und massiver vor. Sodass im Zweifel das ganze Netz zusammenbricht und - wie diese Woche - 300.000 Menschen ohne Strom sind." Wenn dann auch die Option wegfällt, das Trinkwasser frostfrei zu halten, drohen bei Temperaturen unter Null massenweise Leitungen zu platzen.

Vitali Klitschko weiß, was die Stadt in diesem Winter erwartet. Öffentlich anmerken lässt er sich das nicht. "Kiew ist gut vorbereitet", sagt er für die deutschen Journalisten, "auch auf schlimme Szenarien". Brantner hat allerdings auch den ukrainischen Außenminister getroffen. Andrij Sybiha klingt anders als Klitschko, auch öffentlich. Er fordert sofortige Energiehilfe, das Land brauche konkret auch "zusätzliche Energiemengen", um den vierten Kriegswinter zu überstehen.

Denn die Russen haben auch die Waffen verbessert, mit denen sie die Infrastruktur attackieren. Die "Financial Times" berichtet von neuer Software für bestimmte Typen von Kinschaal und Iskander. Sie lässt die Raketen demnach Manöver fliegen, die Abwehrsysteme in die Irre führen.

So könnte der Kreml in diesem Winter das schaffen, was ihm im vergangenen noch nicht gelang: eine Flüchtlingsbewegung Richtung Westen in Gang zu setzen, wenn die Gefahr droht, dass vor allem die Schwächsten - Kinder, Kranke, Alte - einen frostigen Winter ohne Heizung nicht überstehen. Brantner forderte schon vor ihrer Reise mehr Hilfe aus Deutschland für die Ukraine. 48 Stunden Kiew lassen diese Forderung vehementer werden: Finanzielle Hilfe, Luftverteidigung, aber auch mehr Zusammenarbeit mit deutschen Energieversorgern, die den Ukrainern nicht nur im ersten Kriegswinter vielfach zur Seite standen.

Als die Gruppe um die Grünen-Chefin kurz vor Mitternacht den Zug Richtung Polen besteigt, hat die Alarm-App gerade Entwarnung gegeben. Der sechste russische Luftschlag des Tages ist abgewehrt, der Zug kann ohne Gefahr die Hauptstadt verlassen. 300 Drohnen, 17 Marschflugkörper und acht ballistische Raketen wird die Bilanz dieser ukrainischen Nacht sein. Und ein leises Aufatmen, als der Zug mit den deutschen Kiew-Besuchern am Morgen die Grenze nach Polen passiert.

Quelle: ntv.de

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