
Tausende Menschen protestierten am Montag in Rostock gegen die Corona-Maßnahmen.
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Immer öfter ziehen Menschen unangemeldet gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße. Immer öfter kommt es dabei zu Gewalt. Soll der Staat die Protestierenden dennoch laufen lassen? Juristisch ist das nicht leicht zu beantworten, in der Praxis aber schon.
Im dritten Jahr der Pandemie, inmitten der fünften Welle stellt das Coronavirus die deutsche Demokratie mehr denn je auf die Probe. An gleich zwei Fronten muss das Land in diesen Wochen verhandeln, ob andere Grundfreiheiten zugunsten des Rechts auf körperliche Unversehrtheit zurückstecken müssen: in der Debatte über eine allgemeine Impfpflicht und bei der Frage nach dem richtigen Umgang mit den an Zulauf gewinnenden Corona-Protesten. Während die mögliche Impfpflicht noch einer detaillierten Ausarbeitung harrt, die Diskussionsgrundlage daher noch vage bleibt, ist die Herausforderung für den freiheitlichen Rechtsstaat durch unangemeldete Proteste in diesen Tagen sehr konkret.
Schon seit dem Frühjahr 2020 treffen sich Menschen unter der bewussten Umgehung des Versammlungsrechts zu vermeintlichen Spaziergängen, um gegen Grundrechtseinschränkungen zum Infektionsschutz zu protestieren. Der Kniff, der seinen Anfang mit den Sonntags-Treffen entlang der B96 - Schwerpunkt Sachsen - nahm, findet inzwischen in allen Bundesländern Anwendung: Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende kamen am vergangenen Montag an Hunderten Orten zusammen, meist nur in zwei- und dreistelliger Zahl, in Städten aber immer öfter auch vierstellig.
Schon aus Fragen der Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürger und zur Sicherstellung der öffentlichen Ordnung kann der Staat nicht wegschauen. Das macht er mit anderen Demonstranten auch nicht. Bund und Länder positionieren sich zwangsläufig, wenn Recht und Gesetz ignoriert und gebrochen werden. Auch vom Tolerieren oder Ignorieren der Versammlungen und Spaziergänge geht schließlich ein Signal aus.
Versammlungsfreiheit so wichtig wie Meinungsfreiheit
Doch steht die Frage im Raum, wer den größeren Rechtsbruch begeht: In seinem Grundsatzurteil zu den Anti-AKW-Protesten in Brokdorf hat das Bundesverfassungsgericht 1985 die Versammlungsfreiheit auf eine Stufe mit der Meinungsfreiheit gestellt, die auf Demonstrationen ihren kollektiven Ausdruck finde. Die Meinungsfreiheit ist als Wesenskern der Demokratie fast nicht einzuschränken. Ausnahmen bilden in Deutschland nur die Leugnung des Holocaust und Bestrebungen zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung. Der Versammlungsfreiheit kommen zudem zentrale Funktionen zu, weil sie zwischen den Wahlen relativ autonom handelnde politische Organe korrigieren und Unzufriedene durch Teilnahme am politischen Willensbildungsprozess integrieren helfe, argumentierte Karlsruhe 1985.
Seither gilt die Versammlungsfreiheit als kaum antastbar. Selbst Verbote von nachweislich rechtsextremistisch motivierten Versammlungen sind für Städte und Kommunen nur unter hohem juristischen Aufwand durchsetzbar. Entsprechend waren die absoluten Versammlungsverbote der ersten Lockdownphase nach Einschätzung des Freiburger Verfassungsrechtlers Dietrich Murswiek "von vornherein unverhältnismäßig und daher verfassungswidrig". Das Bundesverfassungsgericht dagegen scheint - noch ist die Urteilsbegründung unveröffentlicht - die Lockdown-Maßnahmen der ersten Pandemie-Welle im Großen und Ganzen mitzutragen.
Zweifel in Sachsen
Die derzeit geltenden rigiden Einschränkungen einiger Bundesländer, wie etwa in Sachsen, wo nur maximal zehn Menschen an einem festen Ort und unter Hygieneauflagen zusammenkommen dürfen, bewegen sich potenziell zumindest in einer Grauzone. Auch Grüne und Linke brachten am Mittwoch ihre Zweifel an der engen Beschränkung zum Ausdruck, als der sächsische Landtag über einen AfD-Antrag zur Wiederherstellung der vollen Versammlungsfreiheit debattierte und ihn am Ende erwartungsgemäß ablehnte.
Grünen und Linken schwant, dass die strengen Auflagen eher denen nützen, die sie ignorieren: Weil Gegendemonstrationen rar sind, entsteht in der Öffentlichkeit das schiefe Bild von entschlossenen Maßnahmen-Gegnern und einer schweigenden Masse. Dass auch und gerade in Sachsen Menschen die Corona-Proteste entschieden ablehnen, bleibt unter diesen Bedingungen unsichtbar. So wird die Einschränkung der Versammlungsfreiheit zum Bumerang.
Angemeldete Demos missachteten Auflagen
Doch das Dilemma, vor dem der Staat steht, ist nicht dadurch aufzulösen, dass alle Versammlungen wie vor der Pandemie stattfinden. Ohne Auflagen zu Abstand und Masken wären die Demonstrationen wieder potenzielle Pandemietreiber, wozu es wissenschaftliche Belege gibt. Wiederholt haben Gerichte Verbote angemeldeter Corona-Demonstrationen bestätigt, weil deren Anmelder bei früheren Versammlungen die Einhaltung der Auflagen nicht durchgesetzt hatten. Der Polizei bleibt dann nur, die renitente Masse an die Regeln zu erinnern und schließlich die Versammlung aufzulösen. Das muss der Staat seinen Dienern allerdings nicht zumuten, zumal die Auflösung schnell und unverhältnismäßig eskalieren kann.
Die nicht angemeldeten Spaziergänge sind nicht zuletzt eine Reaktion auf diese Auflagen. Die Maßnahmen-Gegner wollen ohne Abstand und Masken auf die Straßen gehen. Greift die Polizei nicht ein, das zeigt ein Blick in die entsprechenden Foren und Plattformen, fühlen sich die Teilnehmer bestärkt in ihrer Auffassung, im Recht zu sein.
Greift der Staat durch, indem er Personalien aufnimmt, Platzverweise erteilt und Strafgeld-bewehrte Ordnungswidrigkeiten verhängt, werden die Polizisten durch die Demonstranten als "Schergen" und "Milizen" verunglimpft. Dann kommt es schnell zu hässlichen Szenen, deren Videoaufnahmen - teils manipuliert - in den sozialen Medien verbreitet werden, um den Furor noch weiter anzufachen. Zumal Polizisten tatsächlich immer wieder mal überzogene Härte anwenden - und zwar um so öfter, je mehr die Polizei von der Vielzahl an Einsätzen überlastet ist und Beamten-Nerven brach liegen. Die Gefahr, Polizisten zu verheizen, wächst, und die Pandemie könnte noch lange andauern.
Eine Frage der Kräfteverhältnisse
Kritik an unterlassenem Einschreiten haben die Landespolizeien immer wieder mit dem Verweis auf das Gebot der Verhältnismäßigkeit zurückgewiesen. Eine ansonsten friedliche unangemeldete Demonstration unter Gewalteinsatz aufzulösen, wäre ja tatsächlich ein fragliches Vorgehen. Allerdings zeigt sich bislang, dass es überhaupt erst zur Gewalt kommt, wenn die Zahl der Polizeikräfte deutlich zu gering ist. In Sachsen, warnt die Polizeigewerkschaft GdP, sei genau das immer öfter der Fall. Die Beamten können nicht überall gleichzeitig sein und schon gar nicht präventiv.
So orientiert sich die Frage der Verhältnismäßigkeit immer öfter an den Kräfteverhältnissen zwischen Demonstranten und anwesenden Polizisten. Im Zweifel muss der Staat laufen lassen, was er eigentlich nicht dulden kann, wenn Gesetze für alle gleichermaßen gelten sollen. Für diejenigen, die Corona-Proteste entschieden ablehnen, ist das eine bittere Wahrheit - mit der sie sich auf absehbare Zeit abfinden müssen.
Quelle: ntv.de