
Piks mit großer Wirkung: In Deutschland warten Millionen Menschen weiter auf eine Impfung.
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Um schnell an einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu kommen, befreit die EU Pharmafirmen weitgehend von Haftungsrisiken. Die finanziellen Folgen für alle Gesundheitsschäden trägt die Allgemeinheit. Doch ausgerechnet für Ärzte bleibt das Impfen eine rechtliche Gratwanderung.
Im Sommer 2020 steckt Europa mittendrin in der Pandemie. Die meisten Länder haben nach der ersten Welle Hunderte, wenn nicht Tausende Opfer zu beklagen. Ihre Regierungen können dem Sterben nicht viel mehr entgegensetzen als das Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Einziger Lichtblick ist der rasante Fortschritt bei der Impfstoffentwicklung. Der Impfstoff gilt als Gamechanger. In dieser Ausgangslage verhandelt die EU mit mehreren Herstellern über Lieferverträge - auch mit dem britisch-schwedischen Konzern Astrazeneca. Über Haftungsfragen wird offenbar hart gerungen. So stellen es EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und auch die Bundeskanzlerin später dar. In einem Interview Anfang Februar sagt Angela Merkel, die Verhandlungen hätten sich auch deshalb in die Länge gezogen.
Im Arzneimittelgesetz § 84 AMG ist festgelegt, dass ein Unternehmen dann haftet, wenn "sein Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen oder der Schaden infolge einer nicht den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft entsprechenden Kennzeichnung, Fachinformation oder Gebrauchsinformation eingetreten ist."
Im Falle von Astrazeneca lässt sich die Staatengemeinschaft dann aber doch darauf ein, die Haftung für mögliche Probleme mit dem Impfstoff zu übernehmen - offenbar auch in Bezug auf Impfschäden. "Die EU haftet für die Folgen des Impfens", bestätigt CDU-Gesundheitsexperte Erwin Rüddel im ntv-Interview. "Wir sind dankbar, dass uns die Pharmafirmen so schnell und in so großen Mengen haben versorgen können. Ich denke, da ist die Haftung für Impfschäden ein überschaubarer Aspekt". Es ist der Preis, den die EU-Staaten zahlen für die Aussicht auf ein schnelleres Ende des Corona-Alptraums. Entfällt die Produkthaftung für womöglich mangelhafte Impfdosen, nutzt das aber vor allem den Herstellern.
Produkthaftungsklagen können Pharmaunternehmen Hunderte Millionen US-Dollar kosten - in der Vergangenheit gab es mehrere solcher Fälle. Wegen vermutlich tödlicher Nebenwirkungen seines Schmerzmittels Vioxx einigte sich etwa der Merck-Konzern 2007 auf eine Vergleichssumme in Höhe von 4,85 Milliarden US-Dollar, um einen Großteil der Streitfälle mit Tausenden Betroffenen außergerichtlich beizulegen. Die Entwicklung neuer Arzneimittel inklusive der Testung über klinische Studien bis zur Marktreife dauert im Normalfall mehrere Jahre. Für die Herstellung von Corona-Vakzinen standen aber nur wenige Monate zur Verfügung. Die Gefahr von Nebenwirkungen ist also ungleich höher. Der aktuelle Fall von Hirnvenenthrombosen, die nach einer Impfung mit Astrazeneca auftraten, wird womöglich kein Einzelfall bleiben. Ein Zusammenhang wird weiter geprüft.
Am Ende zahlt die Gemeinschaft
Die Pharmafirmen hatten deshalb von Anfang an ein großes Interesse daran, ihr Haftungsrisiko zu minimieren. "Das geht am Ende auf Kosten der Steuerzahler", sagt der Medizinrechtler Thomas Schlegel auf Nachfrage von ntv.de. Schlegel unterrichtet Arzt- und Medizinrecht an der privaten Hochschule Fresenius in Idstein. Weil die Impfungen gegen das Coronavirus staatlich empfohlen wurden, haftet nach dem Infektionsschutzgesetz (IFSG) ohnehin erst einmal die öffentliche Hand für Folgeschäden - also der deutsche Staat. Sollte die EU aber auch für bisher noch unbekannte Impfschäden die Haftung übernommen haben, könnte die Bundesregierung laut Schlegel alle Schadenersatzansprüche von Betroffenen im Rahmen der sogenannten Kaskadenhaftung an Brüssel weitergeben.
Gerade bei der Frage nach Definition und Ursache eines Impfschadens droht laut Schlegel in diesem Fall ordentlich Streit. "Für die Betroffenen ist das aber erst einmal egal", so der Experte weiter. Sie müssen sich in erster Instanz ohnehin an das Versorgungsamt im jeweiligen Bundesland wenden. Dessen Aufgabe ist es zu beurteilen, ob eine nach einer Schutzimpfung aufgetretene gesundheitliche Schädigung tatsächlich durch die Impfung verursacht wurde. Im Rahmen der Corona-Impfkampagne hat die Bundesregierung zusätzlich ein Meldeportal für Betroffene von Impfstoff-Nebenwirkungen eingerichtet. Die Beweispflicht trägt allerdings zunächst der Betroffene.
Aufklärung muss umfassend sein
Ein Sonderfall sind dem Rechtsexperten zufolge mögliche Impfschäden, die nach einer mangelhaften Aufklärung gemeldet werden. "Dann geht es um eine potenzielle Körperverletzung", erklärt Schlegel. "Das hätte strafrechtliche Folgen - für alle impfenden Ärztinnen und Ärzte, auch Hausärzte." Bei Routineimpfungen - etwa gegen die Grippe - sind in Deutschland normalerweise keine ärztlichen Vorgespräche notwendig. Schlegel glaubt, dass das in der Pandemie anders ist. Stellt sich heraus, dass ein Betroffener seine Einwilligung zu einer Corona-Impfung auf Grundlage nicht vollständiger Informationen gegeben hat, könne das Schadenersatzansprüche rechtfertigen.
Nach einem schweren Verdachtsfall auf eine Lungenembolie infolge einer Impfung mit Astrazeneca impft die Stadt Halle in Sachsen-Anhalt inzwischen nur noch nach einem ärztlichen Beratungsgespräch. "Das ist eine echte Gratwanderung im Moment, gerade für impfende Ärzte, weil man den Entwicklungsstand zum Impfstoff sehr genau im Auge behalten und den Patienten entsprechend aufklären muss." Nicht nur in den Praxen, auch in den Impfzentren müssten dafür nach Ansicht von Schlegel mindestens 15 Minuten pro Patient eingeplant werden. Zeit, die schon vor der Corona-Pandemie fehlte. Im Schnitt haben Hausärzte nur sieben Minuten pro Patient.
Bloße Aufklärungsbögen, die ohne die Möglichkeit ärztlicher Rücksprache zur Unterschrift vorgelegt werden, reichen nach Auffassung von Schlegel nicht - auch dann nicht, wenn sie wie im Falle von Astrazeneca "bisher unbekannte Komplikationen" einschließen. Impfende Ärzte sollten deshalb besonders gründlich sein bei der Aufklärung. "Die Ansprüche aus Impfschäden gegen den Staat sind gesetzlich abgesichert", sagt Schlegel. "Aber eine strafrechtliche Verantwortung für eine unzureichende Aufklärung ist in der jetzigen Situation, mit Impfstoffen über Sonderzulassungen und Schnellverfahren und mit unbekannten Risiken, nicht auszuschließen."
Quelle: ntv.de