Deutscher Soldat in der Ukraine "Ich renne und hoffe, dass der nächste Schuss nicht in den Nacken geht"
28.04.2023, 10:34 Uhr (aktualisiert) Artikel anhören
Eine Kugel wurde einem ukrainischen Soldaten aus der Wunde operiert.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Als russische Truppen vor einem Jahr in die Ukraine einmarschieren, will der ausgebildete Panzergrenadier Jonas Kratzenberg die Ukrainer in ihrem Überlebenskampf unterstützen. Er will anwenden, was er in fünf Jahren Bund gelernt hat, will helfen. Doch nicht erst an der Front wird dem jungen Deutschen klar: So einfach ist es nicht. Über die Ödnis des Wartens auf den Kampf, die Angst vorm tödlichen Treffer und warum man Schützengräben im Zickzack anlegt, spricht der Autor des Buches "Schützenhilfe" mit ntv.de.
ntv.de: Sie haben 282 Tage in der Ukraine gegen die russischen Invasoren gekämpft. Muss man seinen Gegner hassen, um im Krieg töten zu können?
Jonas Kratzenberg: Nein, ich hasse Russland nicht, ich hasse auch Russen, die kämpfen, nicht. Man nimmt das hin im Krieg, das Töten ist notwendig. Ich muss dafür nicht hassen, aber Hass macht es leichter. Das waren 100 Prozent Unterschied zwischen mir und meinen ukrainischen Kameraden.
Sie würden sagen, die haben gehasst?
Ich war auf der Schiene, dass man Kriegsgefangene vernünftig behandelt, mit Anstand und Respekt. Den acht bis elf Leuten, die ich als Gruppe geführt habe, habe ich nicht erlaubt, Videos oder Fotos von toten oder gefangenen Soldaten zu machen. Wir wussten nicht, ob sie Kriegsverbrecher sind oder Familienväter oder vielleicht beides. Uns stand es nicht zu, über sie zu urteilen oder zu richten.

Panzergrenadier Jonas Kratzenberg kämpfte in der Ukraine und schrieb darüber das Buch "Schützenhilfe".
Und die ukrainischen Kameraden?
Bei den Ukrainern war das anders. Was ich verstehen kann, wenn man sieht, was die Russen ihrem Land angetan haben. Es ist aber ausgeartet in manchen Momenten.
Konnten Sie etwas dagegen tun?
Nein.
Sie haben die Russen nicht gehasst, aber trotzdem Deutschland verlassen, um ihr Leben im Krieg aufs Spiel zu setzen. Wie kommt man dazu?
Ich kam aus fünf Jahren Militär, hatte in Afghanistan mitgekämpft. Mein Plan war, Medizin zu studieren, im Sommer wollte ich den Medizintest machen. Es fühlte sich an wie eine Eingebung, es passte perfekt zusammen: Fünf Jahre hatte ich Krieg geübt, ich wollte das Gelernte einsetzen. Der Dachdecker will aufs Dach, der Soldat will ins Gefecht. Ich dachte, ich helfe dort ein paar Monate, und im Juli bin ich zurück, um den Test für das Studium zu machen - ziemlich blauäugig, wenn ich jetzt zurückblicke. Hinzu kam: Die zögerliche deutsche Haltung, diese Debatten über 5000 Helme - das hat mich angewidert. Als einer, der in Afghanistan seinen Arsch hingehalten hatte, fand ich das nicht okay.
Hätte Deutschland sich in Ihren Augen angemessen verhalten, beherzt geholfen, wären Sie dann nicht in den Krieg gezogen?
Die deutsche Weigerung zu handeln hat Öl in mein Feuer gegossen. Ohne das hätte die Entscheidung länger gedauert. Aber eine andere deutsche Haltung hätte mich nicht davon abgebracht. Ich saß auf heißen Kohlen, musste noch ein, zwei Wochen warten. Jeder dieser Tage war in meinen Augen verschwendete Lebenszeit.
Dann sind Sie ins Auto gestiegen und in die Ukraine gefahren.
Ich musste zum Rekrutierungszentrum der Internationalen Legion in Jaworiw, dort gab es ein Auswahlverfahren. An dem Tag, als ich ankam, hieß es, jetzt nehme man nur noch Soldaten mit Kampferfahrung. Meine Zeit in Afghanistan zählte darunter, also war ich dabei. Aber es wurden einige ausgesiebt, die exzellente Soldaten waren.
Wie weit war der Weg noch bis zur Front?
Von einem Quartier im Westen der Ukraine, wo wir in Zelten schliefen und an all unseren Waffen trainierten, ging es eines Nachts 600 Kilometer bis nach Kiew, wo die russischen Streitkräfte seit Wochen versuchten, die Stadt einzunehmen. Wir unterschrieben unsere Verträge und wurden in einem leeren Studentenwohnheim einquartiert, das war von da an unsere Basis. Viele Kriegstage haben wir dort verbracht.
Wie sah Ihr Alltag aus? Was haben Sie gemacht?
Zu Beginn, als die Russen vor Kiew lagen, durften wir die Basis aus Sicherheitsgründen nicht verlassen, nicht mal zum Einkaufen. Dort haben wir uns selbst trainiert, haben eigene Trainingspläne geschrieben, haben viel geredet und absolut räudiges Essen gegessen.
Stärkt oder schwächt das die Kampfmoral?
Es schwächt nicht nur die Kampfmoral, sondern ich habe in krasser Weise abgenommen. Wir haben uns überall, wo wir konnten, Vitaminpillen zusammengeklaubt, weil wir ernsthaft Angst vor Skorbut hatten. Weil Hähnchen und Buchweizen nicht so nahrhaft sind. Die Basis, das war ein Alltag im Krieg. Der Alltag an der Front war anders, vor allem während der Zeiten, wenn wir wirklich eine Woche draußen an der Front waren.
Wir zeigen bei ntv.de immer wieder den Verlauf dieser Frontlinie. Aber wie ist denn die Front beschaffen? Wie nah kommen Sie an die russischen Truppen heran?
Wenn ich als Beispiel Modachiwka nehme, im Süden, da waren es mehrere Kilometer Entfernung zur Frontlinie, es war die nächste Siedlung am Feind. Die meiste Zeit an der Front hat man einen Observationsposten und ein kleines Lager, das schlägt man in irgendeinem Haus auf, das sich anbietet. In Modachiwka sind wir in ein leerstehendes Bauernhaus gezogen und haben einige hundert Meter entfernt unsere Schützenlöcher gegraben. Im Dorfzentrum befand sich die Hauptbasis der Truppen vor Ort. Da gab es Starlink, Wlan, manchmal auch eine Dusche, und da hockten wir eine Woche.
Dann haben Sie also das Lager und das Schützenloch. Und was passiert dann?
Die meiste Zeit passierte tatsächlich: nichts. Der Alltag war extrem locker. Man hatte seine Pflichten, wusste, was man zu tun hat. Die Hälfte der Zeit hockten wir in den Schützenlöchern, also in der Kampfstellung, die andere Hälfte waren wir im Haus. Wir rotierten in Schichten, aber die Gräben waren immer besetzt. Die russischen Drohnen zwangen dazu, lange Schichten zu übernehmen.
Weil ein Wechsel Gefahr bedeutet?
Der Weg zwischen dem Bauernhaus und den Schützenlöchern war offen, wir waren der Artillerie und Drohnen ausgeliefert. Um dieses Risiko so gering wie möglich zu halten, haben wir 24 Stunden-Schichten eingeführt.
Dieser Schützengraben ein paar Kilometer entfernt von den Russen war im Prinzip ein Verteidigungsposten, oder?
Jein. Es war mehr eine gesicherte Stellung, ein Observationsposten, hauptsächlich gedacht, um sich der Sicht zu entziehen. Deswegen war der Graben auch von oben und seitlich abgetarnt.
In Mykolajiw haben Sie in Infanterie-Missionen gekämpft. Wie läuft so etwas ab?
Das startet immer nachts. Wir fahren bis auf einige Kilometer an den Feind heran, sitzen ab und marschieren die Nacht durch bis an eine Sturm-Ausgangsstellung. Von dort aus greifen wir im ersten Sonnenlicht an. Wie erfolgreich solch ein Angriff ist, das kristallisiert sich meistens in der ersten Phase schon heraus. Wenn man kompetente Führer hat, verstehen die auch, wenn sie einen Befehl zum Rückzug geben müssen. Ich bin noch hier, das heißt, ich hatte kompetente Führer. Denn nach der ersten Phase wird ein Angriff entweder weiterverfolgt oder abgeblasen, das bedeutet: Rückzug unter Feuer.
Das bedeutet jedes Mal akute Lebensgefahr. Wie haben Sie den Druck ausgehalten, das Wissen, dass es schief gehen könnte?
Man kann es sich so vorstellen: Wir sind in unserem Apartment in Mykolajiw, dann kommt eine Nachricht: Heute Abend gibt es Arbeit, dafür brauchen wir, zum Beispiel, fünf Personen. Meistens war ich dabei, und ab da war alle Ruhe weg. Ich war nicht aufgeregt, hatte aber Hummeln im Arsch. Es macht jetzt nichts mehr Spaß, bis es losgeht, ich kriege auch kein Auge mehr zu. Immer wieder habe ich die tolle Idee, mich noch ein paar Stunden hinzulegen, bis wir losfahren, aber das funktioniert nie.
Wie haben Sie sich vorbereitet?
Ich schaue, dass alle Magazine voll sind, dass ich genug zu trinken habe, dann fahren wir los zur Basis. Es gibt behelfsmäßig eine krude Befehlsausgabe…
Wieso "krude"?
Die ukrainische Armee ist kein erstklassiges NATO-Militär. An vielen Stellen fühlt es sich doch ziemlich amateurhaft an.
Gleichzeitig haben sie der Bundeswehr und vielen anderen Armeen viel voraus, dadurch, dass sie seit 2014 diese konkrete Kampferfahrung mit den russischen Truppen haben.
Die Ukrainer haben viele Donbass-Veteranen im ersten Teil des Krieges verloren. Und viel Erfahrung besteht, ja, aber Erfahrung ist nicht alles. Wenn Soldaten in der deutschen, der britischen oder der US-Armee ausgebildet werden, haben wir auch Erfahrung - von hunderten Jahren Kriegsführung.
Haben Sie da ein Beispiel?
Zum Beispiel bei der Frage: Was ist die beste Art, einen Schützengraben anzulegen?
Welche fatalen Fehler können dabei denn passieren?
Der fatalste Fehler, und der passiert traurigerweise auf beiden Seiten: Es werden einfach gerade verlaufende Schützengräben angelegt. Die sollten aber im Zickzack verlaufen. Denn falls es eine Bombe in den Graben hinein schafft, dann verteilt sie ihre Splitter in alle Richtungen entlang des Grabenverlaufs.
Aber nicht um die Ecke.
Genau, die gehen nicht um die Ecke. Das ist eine Sache. Eine andere: Ich muss Schützengräben und -positionen so zueinander anordnen, dass ich überlappendes Feuer habe.
Um damit was zu erreichen?
Nehmen wir einen Wagner-Angriff als Beispiel. Die Wagnertruppe will in eine Stellung einbrechen mit kleinen Infanteriewellen, also Fußsoldaten. Die versuchen, diese Stellung mit Handgranaten und Raketenwerfern außer Gefecht zu setzen, um sie dann im Sturm und Einbruch, also praktisch im Nahkampf auszuschalten. Deswegen lege ich in der Verteidigung zuvor mehrere Stellungen an, die alle ähnliche Feuerbereiche haben. So dass die Wagnertruppe, wenn sie in den Feuerbereich der einen Stellung einbrechen will, zugleich auch mehrere andere Stellungen außer Gefecht setzen muss, um nicht im Kreuzfeuer zerschlagen zu werden.
Dieser Fehler wird aus Ihrer Sicht häufig begangen?
Es ist eine Sache, die zum Beispiel die Truppen in Bachmut immer wieder kritisiert haben: dass Positionen falsch angelegt werden und dadurch Stellungen auf sich gestellt sind. Die kann Wagner dann genau auf die beschriebene Art und Weise ausschalten. In meiner Zeit in der Legion haben erfahrene ukrainische Kämpfer Fehler gemacht, die zu vermeiden man in der Bundeswehr in der Grundausbildung beigebracht bekommt. Darum meine ich, Erfahrung ist nicht alles. Ich glaube, beide Armeen, die ukrainische und die russische, werden sehr überschätzt.
Haben Sie solche Fehler angesprochen?
In der Legion gab es tatsächlich Konflikte, wenn Leute zum Beispiel Lichtdisziplin oder Drohnendisziplin nicht eingehalten haben.
Drohnendisziplin?
Grundsätzlich muss ich mich immer vor Augen aus der Luft schützen, auf jede erdenkliche Art und Weise. Zum Beispiel: Wir sind in einem Haus, auf dem Weg dahin waren wir unter Artillerie-Beschuss. Also wissen wir: Die Russen haben wahrscheinlich Drohnen in der Umgebung. Das bedeutet, keiner kann rausgehen, um sein Geschäft zu verrichten, sondern man muss das in irgendeiner Ecke im Inneren des Hauses machen. Es reicht, wenn einer sich danebenbenimmt und dann unsere Stellung von den Russen aufgeklärt und aufgeraucht wird.
Das sind ja eher Konflikte untereinander. Hatten Sie auch Konflikte mit Vorgesetzen?
Oh ja. Oh Gott. Darüber gab es sogar Berichte im "Kyiv Independent" - Konflikte in meiner Legion, aber auch in anderen, wegen Machtmissbrauchs, Mobbings, Korruption. Leute wurden auf Selbstmordmissionen geschickt, auch das hat zu Konflikten geführt, und es hat viele Leute aus der Internationalen Legion vertrieben.
Litt Ihre Legion besonders unter solchen Problemen?
Nach meiner Erfahrung ist Korruption auch in ukrainischen Einheiten existent, aber in der Internationalen Legion ein deutlich größeres Problem. Weil zum einen eine brandneue Struktur entsteht, und gleichzeitig habe ich einen Haufen Leute aus allen möglichen Ländern, die zum Teil überhaupt gar nicht da sein dürften, die unter anderen Umständen gar nicht in die Ukraine hineingelassen würden.
Das heißt, diese Leute hatten keinen Rechtsschutz?
Die sprechen die Sprache nicht, die können sich keinen ukrainischen Anwalt nehmen. Allen ist klar: Die können sich nicht wehren. Wir alle haben den ukrainischen Vertrag unterschrieben, aber die Höhe der Besoldung steht - genau wie bei der Bundeswehr - nicht im Vertrag selbst, sondern im Soldatengesetz. Aber wer kommt in dieses Land und kennt dieses Gesetz? Wer weiß, wieviel wir laut diesem Gesetz wert sind? Wenn plötzlich zwei Drittel des Gehaltes fehlen, was macht man dann?
Es dem Vorgesetzten melden?
So macht man es in der Bundeswehr. Ein Problem, das aufkommt, meldet man eine Ebene höher. Wenn der Zugführer seine Macht missbraucht, melde ich es dem Kompaniechef. Das Problem ist: Diese Strukturen kenne ich in meiner ukrainischen Legion gar nicht.
Sondern?
Ich weiß, da ist ein Sascha, und der Sascha hat irgendwas zu sagen, sagt er. Ich weiß nicht, was für einen Dienstgrad der hat, welche Position, was der mir überhaupt sagen kann. Ich weiß, es gibt irgendeinen Typen namens Taras, der über Sascha steht. Aber niemand hat seine Handynummer oder einen Kontakt zu ihm. Was mache ich da? Das sind Probleme, die mir in der regulären Armee in dieser Form nicht begegnet sind.
Waren Sie da vorher blauäugig?
In der Hinsicht, ja. Nicht bei der Frage, wie der Krieg sein wird. Das konnte ich mir tatsächlich recht gut vorstellen, wie räudig die Sache am Ende werden würde. Aber wieviel Unehrlichkeit mir begegnen würde in der Armee, wie viele Lügen, das hätte ich mir niemals träumen lassen. Die ukrainische Bevölkerung habe ich als wunderbare Menschen erlebt. Aber in meiner Legion war ich zeitweilig so eingestellt, dass ich einem Offizier nicht trauen würde, und wenn ich ihn auch nur nach der Uhrzeit gefragt hätte.
Wir waren bei Ihrem "kruden Auftrag" auf dem Weg zur Front stehengeblieben. Wie geht es danach weiter?
Der krude Auftrag wird für uns Nicht-Muttersprachler nochmal auf Englisch heruntergebrochen und lautet ungefähr: Wir sind jetzt hier, die fahren euch nach da, dort steigt ihr aus, geht nach rechts, dort sind 15 Russen. Da macht ihr Sturm. Dann geht es auf die Humvees und man rast durch die Nacht.
Wie sicher konnten Sie sein, dass dort wirklich 15 russische Soldaten waren?
Grundsätzlich wird alles mit Drohnen aufgeklärt, aber auch die Russen wissen, wie man sich in Häusern verschanzt. Bloß weil die Drohne 15 Leute gezählt hat, heißt das nicht, dass es auch nur 15 sind. Auf einer Mission gab es die Ansage: 15 Separatistenkräfte mit einem Schützenpanzer. Aber tatsächlich stießen wir auf zwei schwere Luftlande-Panzer und 150 Fallschirmjäger. Wir selbst waren etwa 40 Mann. Das ist total aus dem Ruder gelaufen, wir haben überhaupt nicht mehr versucht, die Siedlung noch einzunehmen.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie es mit der zehnfachen Kraft zu tun hatten?
Das war vermutlich Sekunden, bevor die ersten Schüsse gefallen sind.
Vor den ersten Schüssen? Wie konnten Sie wissen, dass da 150 Leute stehen?
Bevor der Kampf überhaupt losging, waren wir auf zwei Russen gestoßen, haben sie gefangen genommen und mit Kabelbindern gefesselt. Von ihnen haben wir die Zahl ihrer Kameraden erfahren, die Panzer konnten wir auch selbst schon sehen.
Was haben Sie mit den Gefangenen gemacht?
Wir haben sie vor uns her gescheucht. Also vom Gegner weg, nicht in den Gegner rein. Wir sind zwölf Kilometer ausgewichen, bis wir an einen Ort kamen, wo wir sicher waren, wo wir die Fahrzeugbesatzung anrufen konnten, und die haben uns dann wieder abgeholt.
Das heißt, Sie sind ohne Verluste rausgekommen?
Nein, wir wurden auf dem Rückzug beschossen.
Wie läuft ein solcher Rückzug ab? Irgendwie geordnet?
Grundsätzlich ist es so: Ich will immer ein feuerndes Element haben und eines, das sich bewegt. Feuer und Bewegung, das ist der Kern der Infanterie. Ein Teil der Truppe bringt Feuer auf den Gegner, zwingt ihn praktisch dazu, die Köpfe einzuziehen. Und ein anderer Teil bewegt sich, zieht sich in diesem Fall also zurück. Das wechselt sich ab. So steht es im Textbuch. Das Schlachtfeld ist was anderes, weil der Panzer seinen Kopf nicht einzieht. Der kann mich aus zwei Kilometern Entfernung noch beschießen, und da richte ich weder mit der Kalaschnikow noch mit dem Raketenwerfer auf diese Distanz etwas aus. Da laufe ich einfach nur. Ich renne und hoffe, dass der nächste Schuss nicht in den Nacken geht.
Denken Sie darüber nach, dass er in den Nacken gehen könnte?
Die ganze Zeit.
Haben Sie wahrgenommen, dass Kameraden von Ihnen getroffen wurden?
Die Abstände zwischen den Leuten waren da schon so groß, dass ich erst in der Basis realisiert habe, dass es Tote gab. Die Gefangenen wurden nochmals befragt und dann weggebracht.
In Ihrem Buch steht der Satz: Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt. Der wirkt passend zu diesem Erlebnis.
Das ist einfach so. Kein Plan wird so funktionieren, wie ich ihn haben wollte. Die Amerikaner sagen: Pläne sind wertlos, aber Planen ist unersetzlich. Ich muss mir einen machen aber auch darauf gefasst sein, dass er nicht funktioniert.
Bei einem Drohnenangriff wurden Sie schwer verwundet. Noch immer steckt ein Granatsplitter hinter dem Sehnerv Ihres linken Auges, etwa zwei Dutzend sitzen über Ihrem linken Ohr. War die Verwundung der Impuls zu gehen?
Die Drohne hat geholfen. Aber die Hauptgründe für mich waren meine Familie und meine Freundin, die ich während meiner Zeit im Krieg kennengelernt habe. Wenn die Ukraine wieder ein freies Land sein wird, wollen wir dort zusammen leben.
Mit Jonas Kratzenberg sprach Frauke Niemeyer
(Dieser Artikel wurde am Dienstag, 25. April 2023 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de