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Was folgt auf Haftbefehl-Antrag? "Deutschland müsste Netanjahu festnehmen"

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Der israelische Ministerpräsident Netanjahu kritisierte den Internationalen Gerichtshof scharf.

Der israelische Ministerpräsident Netanjahu kritisierte den Internationalen Gerichtshof scharf.

(Foto: picture alliance / AA/photothek.de)

Der Antrag auf Haftbefehl in Den Haag gegen Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ist brisant. Deutschland drohe ein politisches Dilemma, sagt der Völkerrechtler Christoph Safferling von der Universität Erlangen-Nürnberg. Im Interview mit ntv.de erläutert er, wie die nächsten Schritte des Internationalen Gerichtshofs aussehen und warum das Selbstverteidigungsrecht Israels unangetastet bleibt.

ntv.de: Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), Karim Khan, hat nicht nur gegen drei Führungsmitglieder der Hamas einen Haftbefehl beantragt, sondern auch gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Joav Galant. Wie geht es jetzt weiter?

Christoph Safferling: Eine Vorverfahrenskammer untersucht die Beweise, die der Chefankläger zur Unterstützung seines Antrags vorgelegt hat. Dabei wird genau abgewogen, ob tatsächlich ein Grundverdacht besteht, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von den beiden israelischen Politikern begangen wurden. Das ist kein Automatismus, sondern wird sehr genau geprüft.

Wie lange dauert eine solche Prüfung in der Regel?

Das lässt sich schwer sagen. Wahrscheinlich keine Monate, aber wahrscheinlich auch nicht nur einen Tag.

Der Chefankläger wirft Israel schwere Verbrechen im Gazastreifen vor, etwa den Einsatz von Hunger als Kriegswaffe oder vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Israel hingegen betont, sich nach den Massakern des 7. Oktober gegen die Hamas zu verteidigen.

Das Selbstverteidigungsrecht besteht nach wie vor. Die Hamas greift Israel immer noch an, die Geiseln sind noch nicht befreit. Bei den Vorwürfen geht es um eine andere Frage, nämlich, ob Israel für die aktuelle humanitäre Situation im Gazastreifen verantwortlich ist und ob es diese folglich verbessern müsste. Es ist Kernbestandteil des Völkerrechts, das Los und Schicksal der Menschen zu verbessern, die nichts für einen Krieg können. Vor diesem Hintergrund sehen wir die katastrophale humanitäre Lage, wir sehen, dass Hilfslieferungen nicht ankommen. Da liegt der Verdacht nahe, dass da Verbrechen begangen werden.

Geht es auch um einen Genozid-Vorwurf, wie er auf pro-palästinensischen Demonstrationen erhoben wird?

Nein, der wurde hier auch zu Recht nicht erhoben.

Wie können Haftbefehle des IStGH denn dazu beitragen, dass sich die humanitäre Lage zum Besseren wendet?

Zunächst senden die aktuellen Anträge ein deutliches politisches Signal: Die Verbrechen beider Seiten müssen aufhören und die humanitäre Situation muss besser werden. Das sollten alle Kriegsparteien ernst nehmen. Wenn dann tatsächlich Haftbefehle erlassen werden sollten, käme die rechtliche Konsequenz dazu: Die Mitgliedsländer des IStGH müssten die mit Haftbefehl gesuchte Person festnehmen, sollte sie auf ihrem Staatsgebiet auftauchen.

Angenommen, gegen Netanjahu läge ein solcher Haftbefehl vor und er würde nach Berlin reisen. Wie müsste Deutschland reagieren?

Als Mitgliedsstaat des IStGH ist Deutschland verpflichtet, zu kooperieren. Netanjahu müsste festgenommen und nach Den Haag überstellt werden.

Das ist nur schwer vorstellbar. Immerhin ist Deutschland einer der engsten Verbündeten Israels und hat die Sicherheit des Landes sogar zur Staatsräson erklärt.

In der konkreten Situation ist das sicherlich ein Dilemma. Aber Deutschland sagt von sich selbst, dass es auf der Seite des Rechtsstaats steht. Der IStGH vorverurteilt niemanden, sondern setzt ein rechtsstaatliches Verfahren in Gang, was über mehrere Instanzen zu einem Urteil führt. Wenn man sich zum Rechtsstaat bekennt, müsste man sich auch bei einem Haftbefehl gegen Netanjahu daran halten.

Aber eine Verhaftung erzwingen kann der IStGH nicht?

Nein, die Zähne sind da sehr stumpf. Er kann höchstens politischen Druck ausüben.

Das heißt, ein Haftbefehl gegen Netanjahu würde ihn, wenn überhaupt, in seiner Reisefreiheit einschränken?

Im eigenen Land droht ihm nichts. Israel gehört im Gegensatz zu Palästina nicht zu den Mitgliedern des IStGH. Aber er könnte sich kooperativ zeigen, um die Vorwürfe zu klären, also auf Den Haag zugehen, ohne gleich dort hinzufahren. Zudem gäbe es die Möglichkeit, von der Straftat zurückzutreten: Wenn eine mit Haftbefehl gesuchte Person dafür sorgt, dass sich die humanitäre Situation verbessert, könnte die Tat als zurückgetreten betrachtet und der Haftbefehl zurückgezogen werden.

Hat der Staat Israel Möglichkeiten, auf das Verfahren einzuwirken?

Wenn Israel willens und in der Lage ist, selbst ein völkerrechtliches Verfahren durchzuführen, dann wäre ein Verfahren vor dem IStGH nicht mehr zulässig. Die israelischen Reaktionen deuten derzeit jedoch nicht darauf hin.

Unter anderem das Auswärtige Amt kritisiert, dass der Chefankläger einen "unzutreffenden Eindruck der Gleichsetzung" erweckt habe, weil er die Anträge gegen Netanjahu und Galant gleichzeitig mit denen der Hamas-Führer beantragt hat. Teilen Sie diese Auffassung?

Politisch kann das als Gleichsetzung verstanden werden. Aber rechtlich wird da nichts gleichgesetzt. Da wird jeder Haftbefehl individuell bewertet, schließlich kommt es auf die Vorwürfe an.

Die USA zeigen sich "empört" über die Entscheidung des IStGH. Netanjahu selbst wirft dem Chefankläger vor, "Öl ins Feuer des Antisemitismus zu gießen". Droht dem Gericht in Den Haag ein Imageverlust oder könnte das Verfahren vielmehr die Unabhängigkeit des Gerichts stärken?

In welche Richtung sich das entwickelt, wird sich zeigen. Ich finde es aber unterstützenswert, wenn ein unabhängiger Staatsanwalt einen Antrag auf Haftbefehl stellt, Beweise geprüft werden und es ein Hauptverfahren gibt. Ein rechtsstaatliches Verfahren ist immer besser, als sich mit Waffen zu bekämpfen.

Mit Christoph Safferling sprach Marc Dimpfel

Quelle: ntv.de

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