Politik

Ein Jahr Scholz-Rede Die Reaktion auf die "Zeitenwende" muss schneller werden

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Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine erklärte Bundeskanzler Scholz in einer Sondersitzung des Bundestags: "Wir erleben eine Zeitenwende."

(Foto: picture alliance/dpa)

Nur wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine leitete Bundeskanzler Scholz mit einer kraftvollen Rede überfällige Richtungsentscheidungen ein. Fast ein Jahr später hat sich viel getan - aber längst nicht genug.

Mit "Zeitenwende on tour" bereist die Münchner Sicherheitskonferenz seit dem letzten Sommer ganz Deutschland. Wir sprechen mit Bürgerinnen und Bürgern über die notwendigen Veränderungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Im Austausch bei den Townhalls, bei Begegnungen mit unterschiedlichen Gruppen von Schülerinnen und Schülern bis zur Bundespolizei, bei Betriebsversammlungen und Bürgerforen machen die Menschen vor allem vier Punkte immer wieder klar:

  • Die Autoren

    Benedikt Franke ist stellvertretender Vorsitzender und CEO der Münchner Sicherheitskonferenz. Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung.

    Erstens verstehen viele Bürger, dass Veränderungen - auch schmerzhafte - notwendig sind. Doch sie fühlen sich nicht immer mitgenommen und in manchen Diskussionen sogar allein gelassen. Die Deutschen möchten, dass man ihnen die Wahrheit zutraut.
  • Zweitens rutscht das große Narrativ der "Zeitenwende" aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger zu oft in konfuses Klein-Klein ab. Statt formeller Definitionen von Panzern oder dem Sezieren bürokratischer Hürden wünschen sie sich Orientierung und Klarheit, warum wir eigentlich Waffen liefern müssen und was wir damit erreichen wollen.
  • Drittens stellen die Menschen immer wieder die Frage: Wo wollen wir eigentlich hin mit unserer Reaktion auf die Zeitenwende? Gibt es ein Wunschszenario der Bundesregierung für Deutschlands Zukunft, und wenn ja, wie sieht es aus? Die meisten sind damit einverstanden, dass wir der Ukraine helfen müssen, sich zu verteidigen und die besetzen Gebiete zurückzuerobern. Aber bis wohin? Eine klare Mehrheit akzeptiert auch, dass wir unsere Abhängigkeiten von Russland und anderen autoritär regierten Staaten reduzieren müssen. Aber zu welchem Preis? Die Menschen können ebenfalls nachvollziehen, dass Deutschland in der NATO und der EU auch mal mit Führung vorangehen muss. Aber wie genau?
  • Und schließlich erwarten die Bürgerinnen und Bürger ein Jahr nach der Zeitenwende ein klares politisches Programm. Selbst wenn viele durchaus akzeptieren, dass die deutsche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg nicht über Nacht als perfekt ausgearbeitete Strategie vorliegt, wünscht sich der Großteil der Bevölkerung nach mittlerweile einem Jahr langsam mal einen Plan und eine "klare Ansage". Die Menschen wirken dabei bereit, auch schwierige und teure Entscheidungen mitzutragen, wenn man "doch nur mal endlich mal machen, statt immer nur diskutieren würde". Ob die angekündigte Nationale Sicherheitsstrategie eine solche klare Ansage liefern kann, will und wird, sehen viele Bürgerinnen und Bürger eher skeptisch.

Besonders bemerkenswert ist, dass man in manchen Punkten den Eindruck gewinnen kann, die Menschen seien in den Denkprozessen zur "Zeitenwende" weiter als viele Politiker. Das mag daran liegen, dass es sich stets freier denken als in Verantwortung machen lässt, die nähere Betrachtung einiger der geäußerten Ideen lohnt sich dennoch sehr.

Die Ziele sind zu unklar, die Kommunikation auch

Die Menschen im Land wissen, dass die deutsche Militärhilfe für die Ukraine viel besser ist als ihr Ruf. Doch bleiben aus ihrer Sicht die Ziele noch immer ungeklärt. Was will Deutschland mit der militärischen Unterstützung erreichen? Noch schlimmer finden viele Bürgerinnen und Bürger allerdings die Tatsache, dass wir der russischen Seite die Eskalationsdominanz überlassen haben. Statt uns ständig davor zu fürchten, was die Russen machen, wenn wir noch einige Panzer oder Haubitzen liefern, sollten wir es genau umdrehen, fordern viele. Nach Ansicht vieler sollten wir jeden Angriff auf ein ziviles Ziel, jede Rakete oder Drohne in ukrainische Wohnhäuser sofort mit einer weiteren Lieferung beantworten. So solle den Russen klarwerden, dass sie die Verantwortung tragen für unsere Gegenmaßnahmen und nicht etwa wir die Verantwortung für ihre Gräueltaten.

Auch verstehen viele Menschen nicht, warum Bundesregierung, Bundeswehr, Industrie und Ukraine so oft unterschiedliche Botschaften schicken. Der Kreislauf aus öffentlichen Bitten und öffentlichem Ablehnen geht den Leuten erkennbar gegen den Strich. In der Bevölkerung rätselt man zudem, warum es eigentlich keinen ständigen Beauftragten der Bundesregierung mit einem ständigen Arbeitsstab gibt, der nichts anderes macht, als von morgens bis abends nach Lösungen für die Unterstützung der Ukraine zu suchen. Der größte Angriffskrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger kein Vorgang unter vielen, den man in den üblichen Verwaltungsabläufen nebenbei bewältigen könnte.

Viele der Fragen und Argumente, die uns bei "Zeitenwende on tour" begegnen, sind bestechend logisch, so auch zu Russland: Wenn wir jetzt eine "Zeitenwende" erleben, dann kann unsere Politik gegenüber Russland der letzten Jahre und Jahrzehnte doch nicht richtig gewesen sein? Mindestens zwei Fehler müssen nach Ansicht unseres Publikums offen auf den Tisch. Zum einen haben wir uns über die Positionen der mittelosteuropäischen Partner hinweg in Abhängigkeiten von Putins Russland begeben, die fatale Folgen hatten. Zum anderen basierte die deutsche Russlandpolitik seit Putins Amtsantritt offenbar eher auf einer Wunschvorstellung von Russland als auf einem nüchternen Blick auf die Realitäten. Bei beidem erwarten die Teilnehmer unserer Veranstaltungen jetzt schnelle Besserung, übrigens nicht nur mit Blick auf Russland, sondern auch auf China.

Russlandpolitik kann nicht nur Putinpolitik sein

Ein Wunsch, der in dabei immer wieder aufkam, ist, unsere mittelosteuropäischen Partner intensiver einzubinden. Viele sehen einen Widerspruch zwischen der erklärten und von vielen unterstützten Europapolitik von Bundeskanzler Olaf Scholz, nach der Deutschland alles dafür tun muss, Europa zusammenzuhalten und dem zunehmenden Unverständnis unserer Nachbarn für deutsche Sonderwege. Ein sehr guter Vorschlag kam in einer der Debatten auf: Wie wäre es denn, statt eines "Russlandbeauftragten" der Bundesregierung einen neuen "Beauftragten für Ostpolitik" zu ernennen, verbunden mit der klaren Botschaft, dass Deutschland künftig jeden Schritt und jede Politik mit Russland immer mit den Partnern in Mittelosteuropa abstimmen und mit ihnen gemeinsam gehen wird. Was "Russlandpolitik" war, könnte so eine integrierte Politik für eine gesamte Region werden.

Für sehr viele Menschen bei uns ist Russland nicht Putin. Russlandpolitik kann daher nicht nur "Putinpolitik" sein. Viele fragen sich, ob wir nicht auf Russisch besser und direkt mit den russischen Menschen kommunizieren können, um über die Zivilgesellschaft, die Wissenschaft und die Kultur das Gespräch mit der russischen Öffentlichkeit zu suchen. Der Wunsch nach echten Anstrengungen, um Perspektiven für ein anderes Russland und eine andere Zusammenarbeit aufzuzeigen, ist deutlich vernehmbar.

Sehr viele Bürgerinnen und Bürger wünschen sich, dass die Bundesregierung ähnlich wie mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr weitere konkrete und weithin sichtbare Zeichen setzt, die nicht nur das Vertrauen unserer Partner stärken, sondern auf die man im Idealfall sogar noch stolz sein kann - und das Ganze am besten, ohne der russischen Seite einen Vorwand für eine weitere Eskalation zu liefen. Dass diese schwierige Balance eigentlich das zentrale Kunststück der gesamten Zeitenwende ist, ist klar. Gleichwohl wünscht man sich den nächsten "Wumms".

Viele Bürger fürchten, dass gute Ideen ausgebremst werden

Dazu könnte, so ein Vorschlag, die permanente Stationierung deutscher Truppen an der Ostflanke der NATO gehören - und zwar mit Mann und Maus. Die feste Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen, mit den Soldatinnen und Soldaten, mit ihren Familien und auch mit deutschen Kindergärten, Schulen und der gesamten notwendigen Infrastruktur würde verdeutlichen: Die Sicherheit unser Partner und Freunde in Mittelosteuropa ist auch unsere Sicherheit.

Gut angekommen ist bei vielen Bürgerinnen und Bürgern auch die bereits öffentlich gemachte Idee eines "Skyshield Europa" zur gemeinsamen Luftverteidigung, das industriell, technologisch und finanziell maßgeblich von Deutschland angeschoben wird. Dieser Schutzschild wird oft mit dem Iron Dome der Israelis verglichen, dem man beinahe magische Wirkungen zuschreibt, auch wenn das militärfachlich nicht ganz korrekt sein mag. Doch plagt viele die Sorge, dass diese gute Idee den Erstkontakt mit der deutschen Bürokratie nicht überleben wird. Hier hofft man auf eine politische Führung, die das Projekt durchboxt und damit einen signifikanten Beitrag zu einem gesteigerten Sicherheitsbewusstsein leistet.

Die Reaktion auf die "Zeitenwende" ist in der Wahrnehmung im Land sehr eng mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr verbunden. Doch auch hier scheint es den Bürgerinnen und Bürgern nicht logisch zu sein, dass es zwar mehr Geld geben soll, sonst aber alles so weiterläuft wie bisher. Gerade das Sondervermögen sieht man als große Chance auf neue Herangehensweisen und neue Strukturen, da die alten offenbar nicht funktioniert haben.

Warum nicht eine smarte Dienstpflicht?

Die "Zeitenwende" erfordert, in vielen Bereichen radikal neu zu denken. Es lohnt sich deshalb, auch zur Wehrpflicht nicht nur ritualisiert altbekannte Argumente auszutauschen. Man sollte die Idee aber auch nicht reflexartig ablehnen. In vielen Gesprächen spürt man dazu eine grundsätzliche Offenheit. Zur alten Wehrpflicht zurückzukehren, ist aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger dennoch nicht vielversprechend. Viele fragen sich allerdings, warum uns in Deutschland nicht die Einführung einer smarten Dienstpflicht gelingen soll, bei der der Dienst in der Bundeswehr eine von mehreren angebotenen Dienstoptionen ist. Einige brachten lebensnahe Anreize von günstigen Krediten über Rabatte auf den Numerus Clausus für Studiengänge bis hin zu lebenslangen freien Bahntickets für diejenigen, die Dienst für unsere Gesellschaft leisten, ins Gespräch und hatten sogar Ideen, wie sich das technologisch zeitgemäß umsetzen ließe.

Dass Russland seine wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland gnadenlos als Waffe eingesetzt hat, ist spätestens dann jedem klar geworden, als die Benzinpreise durch die Decke gingen. Die Schlussfolgerung leuchtet beinahe jedem ein: Deutschland muss seine Liefer- und Exportbeziehungen diversifizieren, um solche einseitigen Abhängigkeiten zu reduzieren. Und nach Ansicht vieler im Land wäre es besser, künftig mehr Dinge selbst zu können, selbst zu produzieren - vor allem bei der Gewinnung beziehungsweise Wiederverwendung von Rohstoffen sowie der Energieversorgung. Um diese Ziele zu verfolgen, muss man nach weit verbreiteter Auffassung keiner "Entkopplung" von Ländern wie China das Wort reden. Gleichzeitig wünscht man sich, dass eine Neuorientierung in Lieferketten und Handelsbeziehungen keine neuen Abhängigkeiten schafft, sondern im Idealfall sogar strategisch zur Stärkung der regelbasierten Ordnung aufgesetzt wird. Ein Zitat aus unseren Veranstaltungen, das im Ohr blieb, war: "Wir sollten unsere wirtschaftlichen Beziehungen so aufsetzen, dass sie Demokratien nicht schwächen und Autokratien nicht stärken."

Schon im Herbst 2020 diagnostizierte die Münchner Sicherheitskonferenz in ihrem eigenen Zeitenwende-Report, dass die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik Gefahr läuft, die Geschwindigkeit der globalen Veränderungen nicht mitgehen zu können. Mit der Rede des Kanzlers Ende Februar 2022 im Deutschen Bundestag ging ein hörbares Aufatmen durch Deutschland, Europa und große Teile der Welt: Endlich hat Deutschland es verstanden. Ein Jahr später wird immer klarer: Verstanden offenbar ja, in ein Programm umgesetzt aber noch nicht. Wir werden deutlich schneller darin werden müssen, die Zeiten zu wenden, wenn wir nicht selbst gewendet werden wollen. Mit der 59. Münchner Sicherheitskonferenz versuchen wir am nächsten Wochenende, einen Beitrag dazu zu leisten.

Die 59. Münchner Sicherheitskonferenz findet vom 17. bis zum 19. Februar 2023 im Bayerischen Hof in München statt. Mehr als 45 Staats- und Regierungschefs, mehr als 70 Außen- und VerteidigungsministerInnen, und VertreterInnen aus mehr als 100 Ländern werden teilnehmen. Für ausgewählte Veranstaltungen wird es hier einen Livestream geben.

Quelle: ntv.de

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