Düzen Tekkal zu Iran-Protesten "Die Revolution ist in vollem Gange"
13.10.2022, 19:02 Uhr
Seit dem Beginn der Proteste vor fast einem Monat zählt der Iran bereits mehr als 180 Tote - darunter zahlreiche Kinder und Teenager.
(Foto: AP)
Seit dem gewaltsamen Tod von Jîna Mahsa Amini herrscht im Iran Ausnahmezustand. Mit der Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal spricht ntv.de darüber, warum die Proteste diesmal anders sind, es nicht nur um Haare oder das Kopftuch geht und warum die Iranerinnen dringend unsere Unterstützung brauchen.
ntv.de: Die Bilder der Proteste im Iran gehen gerade um die Welt. Bekommen wir alles zu sehen, was in dem Land im Moment vor sich geht?
Düzen Tekkal: Nein, leider nicht. Wir bekommen gerade mal ein Zehntel zu sehen. Der Iran drosselt das Internet, um diese Bilder zu verhindern. Das wichtigste, was die Menschen auf den Straßen gerade haben, sind ihre Handys. Das hat das Regime auch verstanden, deswegen werden Handys konfisziert, Menschen geschlagen oder gar getötet, weil sie Handyvideos aufgenommen haben. Die Regierung weiß, dass das die größte Waffe ist, die gegen sie verwendet werden kann. Die Revolution ist in vollem Gange. Ich bekomme nachts Videos aus dem Westen des Irans, wo Leute auf der Straße stehen, jubeln und singen. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch viele Schwerverletzte und Tote. Ich frage mich, wann es ankommt, dass das ein ganz großes Momentum ist.
Was sehen Sie, was die Menschen außerhalb des Irans nicht zu sehen bekommen?

Düzen Tekkal ist Journalistin mit kurdisch-jesidischer Abstammung, Aktivistin und Gründerin der Menschenrechtsorganisation HAWAR.help.
(Foto: Sebastian Schramm)
Ich bekomme viele Bilder und Videos, die Schwerverletzte zeigen. Wenn ich berichte, verzichte ich darauf, sie alle zu zeigen, weil das sehr grausame Bilder sind. Es ist immer eine Sache der Abwägung, was ich veröffentliche und was nicht. Aber jedes Video, das mich erreicht, ist verbunden mit dem tiefen Wunsch der Betroffenen: "Bitte teilt diese Videos und zeigt der Welt, was hier passiert. Wir brauchen euch, ihr seid unsere Schallverstärker und wir setzen auf euch, denn wir haben keine andere Wahl."
Auch früher kam es schon zu Aufständen gegen das Regime. Trotzdem hört und liest man derzeit oft, dass diesmal die Regierung gestürzt werde. Was ist bei den jetzigen Protesten anders?
Es ist generationsübergreifend, klassenübergreifend, ethnien- und religionsübergreifend. Es ist, als ob sich alle abgesprochen hätten. Obwohl man nichts planen kann, weil das Internet gedrosselt ist, wirkt es so, weil alle der Gedanke vereint: Nieder mit diesem Regime, weg mit dem Diktator. Wir sind bereit zu sterben, aber wir werden so nicht mehr weitermachen. Das merken wir auch an den Bildern aus Saqqez, dem Geburtsort von Jîna Mahsa Amini, oder generell aus Kurdistan, im Westen des Iran. Dort fühlen sich plötzlich auch die Iraner mitverantwortlich. Das ist keine Sache der Kurden oder der Minderheiten mehr. Das geht alle etwas an.
Was ist dieses Mal das Besondere?
Als Amini umgebracht wurde, wurde eine Minderheit in der Minderheit umgebracht: eine Sunnitin, eine Kurdin, eine Frau. Und der ganze Iran sagt: "Wir sind Jîna Mahsa Amini." Kinder und Teenager werden getötet, nur weil sie zu Protesten gehen. Alle sehen die Ungerechtigkeit. Diese Bilder will das Regime verhindern.
Menschenrechtsorganisationen haben bislang mehr als 180 Tote bei den Demonstrationen gezählt. Glauben Sie, dass die iranische Regierung irgendwann mit der Gewalt aufhört?
Nein, im Gegenteil, sie werden immer brutaler. Das hören wir aus dem West-Iran, wo neue Kräfte hinzugekommen sind, die nicht einmal Persisch sprechen. Das heißt, das Regime hat sich Hilfe geholt. Die wissen sich gar nicht anders zu helfen, als brutal zurückzuschlagen, weil sie nichts anderes haben. Man darf nicht vergessen, für beide Seiten geht es nur in eine Richtung. Der, der nachlässt, ist erledigt. Das spüren die Menschen mit voller Brutalität. Kinder werden getötet, Lehrer werden verhaftet, die sich um ihre Schülerinnen kümmern, Ärzte werden abgeführt, die Verletzten helfen wollen. Sie stellen sich sogar vor die Apotheken, damit ihre eigene Bevölkerung nicht verarztet werden kann.
Wie lang glauben Sie, werden die Proteste im Iran anhalten?
Noch lange. Die Demonstranten werden nicht aufhören und sind bereit, Opfer zu bringen und zu sterben. Weil das, wofür sie kämpfen, größer ist als sie selber. Aber wie lange, hängt auch von uns hier in Europa und dem liberalen Westen ab. Was die Menschen sich im Iran wünschen ist, dass wir hinsehen und dass wir handeln. Sie wollen, dass wir das Regime als das sehen, was es ist - ein Unrechtsregime. Sie verstehen nicht, warum man immer noch Atomverhandlungen mit dem Iran führt. Die Menschen haben das Gefühl, dass man ihnen damit in den Rücken fällt.
Außenministerin Annalena Baerbock steht nach eigener Aussage für eine feministische Außenpolitik. Tut sie in Ihren Augen genug für die Frauen im Iran?
Es ist ein Anfang, aber nicht genug. Wir haben die Möglichkeit gehabt, mit ihr zu sprechen …
… live in dem sozialen Netzwerk Instagram.
Genau, mit unserer Hilfsorganisation HÁWAR.help haben wir Iranerinnen und Frau Baerbock zusammengebracht. Ich finde, das zeigt, wo sie steht. Das ist mehr als Symbolpolitik. Es gab außer dem Instagram-Live auch mehrere Stunden Hintergrundgespräche, wo iranische Stimmen die Möglichkeit hatten, wirklich auszupacken. Dabei haben wir eine Außenministerin erlebt, die zugehört hat. Nichtsdestotrotz reicht das natürlich nicht. Es geht jetzt darum, dem Anspruch einer feministischen Außenpolitik gerecht zu werden.
Was bedeutet das?
Was Feminismus bedeutet, zeigen uns die Frauen im Iran. Sie zeigen, was es heißt, fremdbestimmt zu sein. Es ist das Kopftuch, aber nicht nur das Kopftuch. Es ist viel mehr als das. Es ist das islamische Strafgesetzbuch, was ihnen das Leben entzogen hat. Man muss sich vor Augen führen, was die Frauen die letzten 43 Jahre durchgemacht haben, seit dieses Regime an der Macht ist. Das ist der Grund, warum die Frauen gerade diese Revolution anführen. Es ist ein emanzipatorischer Befreiungskampf. Das ist Feminismus.
Es gehen auch sehr viele Männer auf die Straßen und demonstrieren für die Rechte der Frauen. Hat Sie das überrascht?
Mich hat das nicht überrascht. Ich glaube, den Westen hat das überrascht, weil wir unsere Klischeebilder im Kopf haben vom chauvinistischen Mann aus dem Orient, der seine Frau unterdrückt. Das ist aber nicht das ganze Bild, im Gegenteil. Die Frauen führen diese Revolution unter frenetischem Beifall der Männer an. Diese Männer sind Väter, Söhne und Brüder und haben auch unter diesem Unrechtsregime gelitten, wenn ihre Mütter und Töchter aus den Autos gerissen worden sind. Sie wissen und sagen, dass es keine Freiheit ohne die Einhaltung von Frauenrechten und Gleichberechtigung gibt.
Haben die Proteste nur etwas mit der Unterdrückung durch den Staat zu tun oder auch mit dem Islam?
Es baut alles auf einem islamistischen Prinzip auf. Staat und Religion sind im Iran nicht zu trennen. Die Mullahs (Islamische Rechts- und Religionsgelehrte, Anm.d.Red.) haben sich die Religion im Grunde herangezogen, um einen Unterdrückungsparat aufzubauen und den Großteil der Bevölkerung in Geiselhaft zu nehmen. Sie benutzen die Religion gegen die eigene Bevölkerung. Aber um das klarzustellen: Es sind Muslime, die da auf die Straße gehen und für ihre Grundrechte eintreten. Jetzt zu behaupten, sie wären islamophob, ist hirnrissig. Das ist leider auch Teil des Problems, wie wir in Europa auf diese Themenfelder gucken. Da müssen wir umdenken.
Was müssen wir dafür tun?
Natürlich müssen wir islamistische Strukturen hinterfragen, die diese Regime auch vertreten und repräsentieren. Es geht darum, zu unterscheiden und Präventionsmaßnahmen abzuleiten, die verhindern, dass eine Gesellschaft unterdrückt wird. Wir müssen dem Unrechtsregime diese Grundlage entziehen. Mit Religion wird Politik gemacht. Das ist der Unterschied.
Frauen auf der ganzen Welt zeigen ihre Solidarität mit den Demonstrantinnen im Iran und schneiden sich die Haare ab. Was bedeutet diese Geste und was bewirkt sie?
Sich die Haare abzuschneiden, ist ein Akt der tiefen Trauer. Ich bin damit aufgewachsen. Jîna Mahsa Amini war Kurdin, das ist ganz wichtig. Unsere Beerdigungen finden öffentlich und lautstark statt. Es werden Klagelieder gesungen und geschrien. Als Zeichen der Trauer schneiden sich Frauen dann ihre heiligen Haare und Zöpfe ab und legen sie ins Grab. Wenn sich eine Frau die Haare abschneidet, sagt sie: meine Haare, mein Körper, mein Leben. Mein Ausdruck der Trauer, mein Befreiungskampf. Es ist etwas sehr Intimes, deswegen berührt uns das auch so. Es ist ein stiller, aber sehr solidarischer Akt der Trauer.
Hilft es den Frauen im Iran, wenn Frauen im Rest der Welt es ihnen nachahmen?
Es sorgt für eine gewisse Sichtbarkeit. Es zeigt "wir sehen euch und euren Schmerz". Aber es gibt viele Formen, seine Solidarität auszudrücken. Wichtig ist, dass es von Herzen kommt.
Manche Aktivistinnen aus dem Iran haben das solidarische Abschneiden der Haare auch kritisiert.
Richtig. Aber was ich am häufigsten von den betroffenen Frauen im Iran höre, ist, dass sie viel pragmatischer sind als wir. Während wir hier darüber diskutieren, was man darf oder nicht darf, sagen sie: Alles, was uns hilft.
Mit Düzen Tekkal sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de