
Viele Frauen schneiden sich ganze Zöpfe ab - einige nur eine Strähne. Es ist aber die Geste, die zählt.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Stars, Politikerinnen, Frauen auf der ganzen Welt trennen sich vor laufenden Kameras von ihrer Haarpracht - die einen von mehr, die anderen von weniger. Aber warum? Es ist nur eine Geste, für Frauen in Demokratien steht nichts auf dem Spiel. Aber immerhin tun diese Frauen was.
Im Iran ist es DAS Zeichen des aktuellen Protests gegen die Unterdrückung des Regimes: Frauen schneiden sich vor laufenden Kameras die Haare ab. War das Abschneiden der Haare schon immer ein tiefer Ausdruck von Trauer - zum Beispiel bei Kurdinnen, die ihren Zopf in das Grab eines engen Familienangehörigen legten, der gestorben ist - hat es im Moment nichts mit Religion zu tun, sondern nur damit, dass Frauen sich nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse behandeln lassen wollen.
In vielen Kulturen ist das weibliche Haupthaar Inbegriff der Verführung. In der iranischen Kultur wird es, seitdem 1979 der Schah gestürzt wurde und die Mullahs das Regime eines Gottesstaates aufgebaut haben, verhüllt, damit es nicht verführt. Über sein Haar jedoch selbst zu bestimmen, das ist das Symbol, das gerade in die Welt gesendet wird. Frauen demonstrieren damit, dass sie "Herrin" (!) ihrer Körper sind. Sie wollen darüber selbst verfügen, es entweder zeigen, verdecken oder kürzen. Alles, was Frauen im Moment mit ihren Haaren machen, ist daher von großer Symbolkraft.
In der Vergangenheit galten meist Frauen mit langem Haar als "verführerisch", die weibliche Haarpracht wurde mit Schönheit gleichgesetzt. Wie sehr fehlinterpretiert langes Haar werden kann, zeigt die Tatsache, dass Sittenwächter meinen, Männer in manchen Kulturen daher vor dem Anblick von langem Haar schützen zu müssen - also vor der Frau als Verführerin des Mannes, der sich nicht wehren kann. Sind wir heute nicht weiter? Langes Haar also nur im Privaten, aber niemals in der Öffentlichkeit. Das lässt sich natürlich über den kompletten weiblichen Körper so fortführen, weshalb es Frauen in bestimmten Regionen dieser Welt gar nicht gestattet ist, auch nur ein Stückchen von sich zu zeigen.
Frauen haben schon immer über ihr Haar funktioniert. Wenn sich etwas Entscheidendes im Leben verändert, dann verändern Frauen oft ihre Frisur, ihre Haarfarbe. Und dass Haare ein Symbol für Freiheit sein können, ist nicht neu. Frauen ließen sich in den 1920er Jahren bereits einen "Bubikopf" verpassen, um ihre Gleichberechtigung zu manifestieren. Dass Frauen im Iran nun täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, in dem sie ihre Haare entweder zeigen oder abschneiden, das hat mit ganz viel Mut zu tun und mit dem unbedingten Willen, etwas zu verändern. Und zwar im System. In dem System, in dem diese Frauen leben.
Dadurch, dass die mutigen Frauen im Iran ihre offenen, langen Haare zeigen, zeigen sie den Diktatoren, den Mullahs, Ajatollahs, Ehemännern, Vätern und Brüdern: "Ihr könnt mich mal, ich mache, was ich will!" Indem sie die Haare abschneiden, gehen sie noch einen Schritt weiter - das Territorium des Mannes, als das der Körper einer Frau in Ländern wie dem Iran vielerorts betrachtet wird, ist verändert, verletzt, zerstört, nicht mehr das, was der Mann kennt und will.
Die Frau zeigt unmissverständlich, dass nur sie die Hoheit über ihren Körper hat. Das gemeinhin Verführerische der langen Haare ist verschwunden. "Ich kann nun ohne Kopftuch gehen, denn kein Mann wird sich nach mir umdrehen", könnte das ausdrücken. Es ist eine massive Protesthaltung von Frauen gegen die männliche Sichtweise einer bestimmten Form der Weiblichkeit. Andere Frauen können den Frauen im Iran helfen, indem sie über das Thema reden, schreiben - oder sich sichtbar die Haare abschneiden.
Das Abschneiden der Haare als feministischer Aufschrei?
Bei den Frauen vor Ort ist es die pure Verzweiflung, die sie so handeln lässt. Die abgeschnittenen Haare sind eine Botschaft an die Herrschenden: Nehmt unsere Haare! Aber lasst uns unsere Freiheit. Beziehungsweise: Gebt uns unsere Freiheit zurück!
Und wer sagt, dass es im Iran schon so oft Proteste gab, so oft Veränderungsbestrebungen, sich aber letztendlich nie etwas geändert hat, der wird sich wahrscheinlich noch wundern: Dieses Mal ist es anders, glauben viele Frauen im Iran. Und auch ihre Unterstützerinnen im Rest der Welt hinterlassen diesen Eindruck, zum Beispiel in den sozialen Medien. Auch Männer schneiden sich ihre Haare ab, stehen hinter ihren Müttern, Töchtern, Schwestern, Ehefrauen, Freundinnen. Auch Männer wollen sich ein solches Unrechtsregime nicht mehr gefallen lassen.
Sich als Nicht-Iranerin nun also durch das Symbol des Haareabschneidens mit den Iranerinnen zu solidarisieren, erzeugt Druck. Und zeigt den Frauen ganz simpel, dass sie gesehen werden, Tausende Kilometer entfernt. Davon ändert sich die Lage nicht ruckartig, aber unsere Demokratien müssen reagieren, wenn ihre Bürgerinnen Rabatz machen.
Quelle: ntv.de