Kein Grund zur Verzweiflung Die ukrainischen Hoffnungen wurden enttäuscht


Der ukrainische Präsident Selenskyj vor einem Treffen mit Kanzler Scholz.
(Foto: AP)
Viele Ukrainer hofften, dass ihr Land schon auf dem Gipfel von Vilnius in die NATO eingeladen wird. Tatsächlich gab es nur eine Absichtserklärung, die an 2008 erinnert. "Wir haben das akzeptable Minimalprogramm bekommen und das ist für uns zufriedenstellend", kommentiert ein Politologe.
Es sind 15 Jahre vergangen, doch die Abschlusserklärungen der NATO-Gipfel 2008 in Bukarest und 2023 in Vilnius lesen sich bezüglich der Ukraine ähnlich. Wieder ist die Rede davon, dass die Zukunft der Ukraine in der NATO ist - ohne darüber hinaus deutlich konkreter zu werden. Zwar muss die Ukraine nach dem Krieg keinen "Membership Action Plan" mehr absolvieren. Ob dieser Weg dadurch aber viel leichter wurde, ist vorerst unklar. Denn der Fortschritt der Ukraine bei den nötigen Reformen soll jährlich von den Außenministern der NATO-Länder in einem "Annual National Programme" bewertet werden. Das erinnert denn doch an die Vorgaben aus dem "Membership Action Plan".
Genauso unklar bleiben die konkreten Bedingungen, die die Ukraine erfüllen muss, um von der NATO als Mitglied eingeladen zu werden. Dazu fiel auch Generalsekretär Jens Stoltenberg kaum ein konkretes Wort ein, obwohl er dazu auf einer Pressekonferenz am Dienstag mehrfach gefragt wurde. Entsprechend groß ist die Enttäuschung in Kiew, wo man zwar keine Wunder von Vilnius erwartet hatte, jedoch hoffte, dass die Last-Minute-Diplomatie von Präsident Wolodymyr Selenskyj funktionieren wird. Selenskyj hatte vor dem Gipfel mehrere Hauptstädte von NATO-Staaten besucht, um für seine Position eines raschen Beitritts nach dem Krieg zu werben.
Doch der Eindruck, die Ukraine habe in der litauischen Hauptstadt eine Niederlage erlitten, wie etwa die führende Internet-Zeitung "Ukrajinska Prawda" schreibt, täuscht in dieser Form ebenfalls: Trotz der Ähnlichkeit der bürokratischen Formulierungen liegen zwischen Bukarest 2008 und Vilnius 2023 Welten - die Ukraine ist der NATO viel näher als vor 15 Jahren.
Die Ukraine hat noch viel Überzeugungsarbeit vor sich
"Viele Ukrainer hatten irgendwie die Hoffnung auf eine NATO-Einladung an die Ukraine, doch seien wir realistisch, das war sehr unwahrscheinlich. Trotz des enttäuschten Beigeschmacks bei einigen Menschen sehe ich aber keinen Grund zur Verzweiflung", kommentiert der ukrainische Politologe Wolodymyr Fessenko die Ergebnisse des Gipfels. "Wir haben das akzeptable Minimalprogramm bekommen und das ist für uns zufriedenstellend, obwohl wir natürlich viel mehr anpeilen. Der Integrationsprozess in die NATO bekommt einen neuen Impuls." Fessenkos Kollege, Politikwissenschaftler Heorhij Tschischow, äußert sich ähnlich: "Pragmatisch gesehen habe ich nicht mehr erwartet, als in Vilnius herauskam. Daher wurden meine persönlichen Hoffnungen auch nicht enttäuscht."
Was Vilnius aber etwa trotz der wichtigen Gründung des NATO-Ukraine-Rates zeigte und was einige in der Ukraine enttäuschte, ist, dass es bei allen Versicherungen offensichtlich ist, dass es im Westen keinen allzu klaren Konsens zur Aufnahme Kiews in die NATO selbst nach dem Krieg gibt. Die Befürchtungen einer direkten Konfrontation mit Russland gehen sichtbar über den aktuellen Konflikt hinaus. Hier wird Kiew eine große Überzeugungsarbeit leisten müssen, um zu beweisen, dass die Aufnahme der Ukraine mehr Vorteile als Risiken bringt.
Rein militärisch würde die Einladung an die Ukraine trotz der russischen Gefahr sicherlich Sinn machen: Die ukrainische Armee gehört in ihrem aktuellen Zustand zweifellos zu den besten, schlagkräftigsten und erfahrensten Streitkräften Europas und würde sich aufgrund der großen Solidarität mit Kiew im aktuellen Krieg bei möglichen Zukunftskonflikten verpflichtet fühlen, einen großen Anteil an NATO-Missionen zu übernehmen. Doch die NATO sieht sich nicht nur als Militärbündnis, und es ist klar, dass gerade die USA, das Schlüsselland der Allianz, eine Reihe von tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Reformen von der Ukraine erwarten, bevor das Thema Mitgliedschaft ernsthaft diskutiert werden kann.
Kein Grund für Pessimismus
"Wir müssen verstehen, dass wir wirklich eine Reihe von institutionellen und strukturellen Reformen durchführen müssen, übrigens auch im Verteidigungssektor", betont Fessenko, der das Zentrum für angewandte politische Forschung Penta leitet. "Die Welt der internationalen Beziehungen ist nicht ideal und zynisch. Unsere Partner haben Interessen und Prioritäten, die mit unseren nie zu 100 Prozent zusammenpassen werden", schreibt seinerseits der Militäranalyst Mykola Beleskow.
Die angemessene Wahrnehmung der Realität sei aber kein Grund für Pessimismus, meint Beleskow, der an dem Nationalen Institut für strategische Studien in Kiew arbeitet. "Nach dem 24. Februar 2022 haben unsere Partner verstanden, dass in die Sicherheit der Ukraine investiert werden muss. Das ist ein großer Fortschritt. Eine andere Sache ist, dass sie dies nicht über die NATO-Mitgliedschaft, sondern durch Waffenlieferungen, Teilung der Geheimdienstinformationen und Ausbildung von Soldaten tun werden." Das sei "nicht ideal", doch immer noch besser als vor dem russischen Angriff, als es keine Sicherheitsgarantien oder "ernsthafte schwere Waffen" gab.
Und trotzdem gibt es in der Ukraine die Befürchtung, dass je nach weiterem Verlauf der Gegenoffensive und des Krieges irgendwann ein Zeitpunkt kommen könnte, an dem die NATO-Mitgliedschaft des Landes bei Verhandlungen mit Russland als Thema ausgespielt werden könnte - und dass genau das der Grund für Zurückhaltung von einigen westlichen Ländern ist. Dies ist sowohl inoffiziell als auch von Präsident Selenskyj selbst zu hören. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wies solche Annahmen zurück: Die Frage der NATO-Mitgliedschaft werde "kein Gegenstand sein, der anderen zur Disposition steht", sagte er in Vilnius.
Ob an diesen Befürchtungen trotz öffentlicher Versicherungen etwas dran ist, wird sich nur mit der Zeit zeigen. Die Vilnius-Deklaration zu Sicherheitsgarantien mit den G7-Staaten, die vorerst nur den Start der Verhandlungen unterstreicht, ist zwar ein wichtiger Schritt, lässt diese Sorgen aber nicht gleich verschwinden - zumal diese Garantien wohl ohnehin erst in der Zeit nach Kriegsende und vor der Aufnahme in die NATO gelten würden.
Quelle: ntv.de