Politik

Beitrittszusage ohne Zeitplan "Die NATO läuft Gefahr, ihren Fehler zu wiederholen"

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Am ersten Tag des NATO-Gipfels einigten sich die 31 Mitgliedsstaaten: Die Ukraine darf nach Ende des Krieges beitreten - unter Bedingungen.

Am ersten Tag des NATO-Gipfels einigten sich die 31 Mitgliedsstaaten: Die Ukraine darf nach Ende des Krieges beitreten - unter Bedingungen.

(Foto: IMAGO/APAimages)

Beim Gipfel in Vilnius hat der ukrainische Präsident Selenskyj von der NATO ein klares Bekenntnis zur Ukraine und einen konkreten Zeitplan für einen Beitritt zum Bündnis gefordert. Den wird es jedoch nicht geben. Die Allianz will der Ukraine grundsätzlich nach Ende des Krieges den Beitritt ermöglichen. Allerdings soll auf das sonst übliche Aufnahmeprogramm der NATO, den Membership Action Plan (MAP), verzichtet werden. Die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander hält das für richtig, fordert aber, der Ukraine eine klare Beitrittsperspektive zu geben, samt Zusage, mit der Integrationsarbeit sofort zu beginnen.

ntv.de: Was ist von dem zu halten, worauf sich die NATO-Mitglieder geeinigt haben?

Minna Ålander: Der Plan, den MAP nicht anzuwenden, ist positiv zu bewerten, denn so könnten unerfüllte Kriterien des Aufnahmeprogramms später keine Ausrede dafür sein, dass der Prozess noch länger dauern muss. Verglichen mit anderen Bewerberstaaten befindet sich die Ukraine in einer völlig anderen Situation. Es ist richtig, für sie eine individuelle Lösung zu finden.

Eine Voraussetzung wäre normalerweise Interoperabilität, also die Fähigkeit, militärisch zusammenzuarbeiten, die Waffensysteme an NATO-Standards anzupassen. Das ist eigentlich schon sinnvoll.

Der Annäherungsprozess der Ukraine läuft aber ganz anders: Das westliche Training bringt sie näher an die NATO. Auch erhält sie derzeit viel westliches Gerät und erprobt es sofort im Kampf. So erlangen ihre Streitkräfte ein Knowhow, das viele Mitgliedsstaaten gar nicht haben.

Minna Ålander forscht am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki zu Sicherheit in Nordeuropa und nordischer Verteidigungskooperation sowie zur deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Minna Ålander forscht am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki zu Sicherheit in Nordeuropa und nordischer Verteidigungskooperation sowie zur deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Die NATO nimmt kein Land auf, dass sich in einem militärischen Konflikt befindet. Das gilt auch für die Ukraine. Zurecht?

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz warnt darauf bezogen davor, ansonsten einen direkten Konflikt zwischen der NATO und Russland auszulösen. US-Präsident Joe Biden scheint diese Sorge zu teilen. Es gibt in den USA aber auch viele Stimmen, die der Ukraine gerne eine klarere Beitritts-Perspektive bieten würden als die erst nach Ende des Krieges. Die ist sehr vage und ermutigt Russland im Zweifelsfall, den Krieg nicht zu beenden.

Kann es zwischen diesen beiden Positionen eine Lösung geben? Etwa das Israel-Modell, das die USA andenken? Das würde heißen: Dauerhafte Unterstützung, damit sich die Ukraine selbst bis an die Zähne bewaffnen kann, wie es Israel tut. Allerdings hat Israel fast 30 Jahre lang 10 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Rüstung gesteckt. Das Geld hätte die Ukraine wohl kaum, das braucht sie für den Wiederaufbau.

Auch deshalb betrachte ich das Modell als für die Ukraine nicht geeignet. Beide Länder sind auch auf sehr unterschiedliche Art in die jeweilige Situation geraten und stehen sehr verschiedenen Bedrohungen gegenüber. Das lässt sich nur schwer vergleichen. Beim Israel-Modell schwingt auch die Fragen nach atomarer Bewaffnung mit.

Israel ist selbst stillschweigend Atommacht, hat aber - noch - keine Atommacht als Gegner. Wie kann sich die Ukraine vor Russland schützen, der größten Atommacht der Welt?

Der Westen muss sich fragen, ob er einverstanden wäre, wenn die Ukraine eigene Atomwaffen entwickeln würde. Kyjiws Partner hätten da sicherlich ein Mitspracherecht. Aber wer könnte der Ukraine vorwerfen, wenn sie sicherstellen wollte, ihre eigene Sicherheit zu garantieren? Welcher Grad an Sicherheit wäre notwendig? Und wer würde das bezahlen? Ich glaube, bei diesen Fragen stößt das Israel-Modell schnell an seine Grenzen.

Wie könnte ein besseres Modell aussehen?

Es liegt aus meiner Sicht im eigenen Interesse der NATO, die Ukraine mittelfristig komplett einzugliedern. Und das nicht an Bedingungen zu knüpfen, die irgendwann in der Zukunft zu erfüllen wären, sondern mit einem klaren Plan, wie und wann der Eintritt vollzogen werden soll. Auch sollte feststehen, welche Schritte sie jetzt schon dafür gehen muss und kann in Bezug auf politische Reformen - Demokratieförderung, Korruptionsbekämpfung. Und die NATO müsste gemeinsam mit der Ukraine einen Verteidigungsplan für sie definieren. Das würde an Russland das Signal senden: Wir meinen es ernst. Mit dem Ziel, die Ukraine ganz eindeutig als einen Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur zu definieren. Sicherzustellen, dass man sowohl ihre Interessen als auch ihre Analyse der Lage teilt.

Welche Gefahr sehen Sie im anderen Fall?

Wenn Kyjiw keine echte NATO-Perspektive bekommt, könnte es irgendwann beschließen, das Ende des Krieges auf andere Weise zu erzwingen - mit einem Angriff auf russisches Gebiet. Das wäre legitim, aber der Westen will es auf keinen Fall, um eine Eskalation zu vermeiden. Ohne klare NATO-Perspektive schwächt er jedoch seine Möglichkeit, das Verhalten der Ukraine zu beeinflussen und zu kontrollieren.

Ein Hauptaugenmerk der NATO ist auch jetzt in Vilnius wieder, Putin nicht zu provozieren. Wenn wir es mal mit der Situation 2008 vergleichen, beim damaligen NATO-Gipfel in Bukarest: Da gab es genau dasselbe Ziel, und darum hat die NATO damals der Ukraine und Georgien eine Beitrittszusage verwehrt. 2009, also ein Jahr später, ist Russland in Georgien eingefallen.

Es war tatsächlich nur vier Monate später, nicht mal ein Jahr.

Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen?

Die Strategie von damals ist komplett fehlgeschlagen, sie hat Russland nicht - wie angestrebt - beschwichtigt, sondern sie hat Putin ermutigt, auch zu aggressivem Verhalten in der ganzen Ostsee-Region. Dort gab es in der Folge Störmanöver und Versuche, die baltischen und die nordischen Staaten einzuschüchtern. Der Luftraum wurde verletzt, es gab Sabotagen bei der Infrastruktur unter Wasser, im Jahr 2013 sogar einen simulierten Nuklearangriff auf Schweden in einer Übung. Putin hat das Ergebnis von Bukarest so verstanden: Er hat freie Bahn und kann nahezu machen, was er will.

Welche Schlüsse hat die NATO daraus gezogen?

Aus meiner Sicht läuft die NATO Gefahr, genau diesen Fehler jetzt zu wiederholen. Das zentrale Argument in dieser Frage ist für mich: Die NATO ist die übliche Sicherheitsgarantie in Europa. Entweder man ist bündnisfrei oder man ist NATO-Mitglied, ansonsten gibt es keine Spezial-Arrangements. Solange die Ukraine davon ausgeschlossen bleibt und nicht die klare Perspektive einer Mitgliedschaft bekommt, sendet es das Signal, dass die Ukraine anders ist als der europäische Rest. Es bestätigt so die russischen Ansprüche auf eine Interessenssphäre in der Region. Es ist dieselbe Strategie wie 2008, die Ukraine in einer Art Warteraum zu parken.

Es gibt vereinzelt Stimmen, wie etwa den Politologen Ian Bond, der dafür plädiert, flexibler und mutiger zu denken, tatsächlich die Aufnahme in die NATO auch schon jetzt zu erwägen, zum Beispiel mit einer Einschränkung von Artikel 5. Solange der Krieg anhält, könnte der Bündnisfall nur dann eintreten, wenn die Ukraine auf dem Gebiet angegriffen wird, das sie momentan auch kontrolliert.

Etwas provokativ könnte man diese Strategie das "deutsche Modell" nennen.

Wie 1955?

Damals war Deutschland geteilt und ist ausschließlich mit den Landesteilen, die unter der Bonner Regierung standen, der NATO beigetreten. Das Gegenargument ist: Damals herrschte kein heißer Krieg, was natürlich auch stimmt. Man kann die Situationen nicht direkt miteinander vergleichen, aber man kann die Ukraine auch nicht mit Israel vergleichen. Ich denke, es gibt hier keine perfekte Lösung. Für die Ukrainer bedeutet die NATO-Entscheidung eine Enttäuschung.

Was wäre aus Ihrer Sicht das beste Ergebnis von Vilnius gewesen?

Meiner Meinung nach sollte die Ukraine auf jeden Fall eine feste Zusage für eine perspektivische Mitgliedschaft bekommen. Gerade weil es keine überzeugende Alternative dazu gibt. Ein wichtiger Faktor sind dabei die nuklearen Drohungen Putins. Sie haben für den Ablauf des Krieges eine entscheidende Rolle gespielt. Sie waren ein zentrales Motiv dafür, dass sich der Westen bei vielen Waffensystemen erstmal zurückgehalten hat. Darum ist klar, dass die Basis für Sicherheitsgarantien Atomwaffen sein müssen, der nukleare Schutzschirm der NATO. Ich sehe nicht, dass die USA, Frankreich oder Großbritannien willens wären, der Ukraine auf bilateraler Basis diese Sicherheit zu garantieren.

Wie konkret sollte die NATO diese Zusage ausformulieren?

Wenn ich den Regierungschefs etwas empfehlen sollte, würde ich sagen: Grauzonen sollte man vermeiden, die Zeiten, wo das funktionierte, sind vorbei, das zeigen auch die Beitritte von Finnland und bald wohl von Schweden. Die Ukraine ist in eine Grauzone geraten, und der Krieg ist das Resultat dessen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr und der Westen darf keine halben Sachen machen: Zu sagen, ernsthaft können wir erst darüber reden, wenn der Krieg vorbei ist, halte ich für falsch. Wir wissen nicht, wann der Krieg enden wird, wie er enden wird, nicht mal, wie wir ein Ende definieren würden. Da sind zu viele Ungewissheiten. Unter anderem auch Deutschland hat immer zum Ziel erklärt, die Ukraine in eine möglichst gute Verhandlungsposition zu versetzen. Wenn die Ukraine eine ganz klare NATO-Perspektive hätte, wäre das eine sehr gute Verhandlungsposition.

Mit Minna Ålander sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen