Politik

Der Völkermord wird anerkannt "Eine tiefsitzende, schwere Verletzung"

An den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Völkermords nahmen 2004 Tausende Herero und Nama teil.

An den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Völkermords nahmen 2004 Tausende Herero und Nama teil.

(Foto: picture alliance / AP Photo)

Nach jahrelangem Widerstand hat Deutschland sich bereit erklärt, den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia als das zu bezeichnen, was er tatsächlich war: als Völkermord. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat dies schon vor 17 Jahren gemacht - zwar als offizielle Vertreterin der Bundesrepublik Deutschland, aber ohne den Rückhalt der Bundesregierung.

Im Interview mit ntv.de begrüßt die SPD-Politikerin, die von 1998 bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung war, die jetzt getroffene Vereinbarung zwischen Deutschland und Namibia. "2004 haben mir Herero-Frauen gesagt: 'Wir sprechen jeden Tag über dieses Thema.' Das ist für uns schwer vorstellbar, aber so ist es. Das ist eine so tiefsitzende, schwere Verletzung, dass die Anerkennung der Verantwortung durch die Bundesregierung mir das Allerwichtigste zu sein scheint."

ntv.de: Frau Wieczorek-Zeul, Sie waren 2004 die erste deutsche Politikerin, die sich für den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia entschuldigte. Geschah das im Auftrag der Bundesregierung oder war das Ihre persönliche Initiative?

Heidemarie Wieczorek-Zeul: Die Bundesregierung hatte damals eine Einladung zu den Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Herero und Nama bekommen.

Wobei in Deutschland dieser Begriff "Völkermord" damals noch tabu war.

Ich habe im Bundeskabinett erklärt, dass ich diesen Termin wahrnehmen und hinfahren werde. Dabei war für mich klar: Wenn man nach hundert Jahren an einer solchen Veranstaltung teilnimmt, bei der auch Tausende Herero und Nama vertreten waren, dann war meine Überzeugung, ganz im Sinne Willy Brandts, endlich das zu sagen, was historisch notwendig ist und was der eigenen Verantwortung entspricht. Und das war: Die Verbrechen, die 1904 im damaligen Deutsch-Südwestafrika geschahen, waren ein Völkermord. Das klar zu benennen und damit auch die Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Namibia und den Herero und Nama deutlich zu machen, war meine Position. Einen Abstimmungsprozess innerhalb der damaligen Bundesregierung habe ich dazu vor meiner Abreise nicht in Gang gesetzt.

Was war denn die Position der Bundesregierung?

2004 in Okakarara schüttelt Heidemarie Wieczorec-Zeul die Hand des damaligen Herero-Oberhaupts Kuaima Riruako.

2004 in Okakarara schüttelt Heidemarie Wieczorec-Zeul die Hand des damaligen Herero-Oberhaupts Kuaima Riruako.

(Foto: picture-alliance / dpa/dpaweb)

Die offizielle Linie des Auswärtigen Amtes damals war, übrigens unverändert seit der Zeit von Bundeskanzler Helmut Kohl, dass der Begriff "Völkermord" nicht verwendet wird - dass es keine Entschuldigung und keine Entschädigungszahlungen gibt. Ich habe das mit meiner Rede bewusst durchbrochen.

Hat sich das Auswärtige Amt danach bei Ihnen beschwert?

Nein. Ich hatte mir vor meiner Reise die Position des Auswärtigen Amtes und auch des Bundespräsidialamtes angesehen. Diese Linie wollte ich in Namibia nicht vertreten. Ich habe dann in Okakarara am Waterberg gesagt: Die damaligen Taten waren das, was heute als Völkermord bezeichnet würde, und General Lothar von Trotha, der Oberbefehlshaber der deutschen Kolonialtruppe, würde heutzutage vor Gericht gebracht und verurteilt. Und ich habe hinzugefügt: "Ich bitte Sie mit den Worten des gemeinsamen Vaterunser um Vergebung unserer Schuld." Ich fand die Bitte um Vergebung von meinem eigenen Gefühl her wichtiger als den Begriff der Entschuldigung.

Aber bei meiner Rede gab es Zwischenrufe, die "apology, apology" forderten, also eine Entschuldigung. Darauf habe ich nach meiner Rede geantwortet und gesagt: "Alles, was ich jetzt hier gesagt habe, ist natürlich die Entschuldigung für die begangenen Gräueltaten." Aber mir selbst war die Bitte um Vergebung wichtiger.

Außenminister Heiko Maas hat am vergangenen Freitag gesagt, Deutschland werde "diese Ereignisse jetzt auch offiziell als das bezeichnen, was sie aus heutiger Perspektive waren: ein Völkermord". Ist es nicht beschämend, dass es bis zu dieser Erklärung so lange gedauert hat?

Ja, natürlich. Schon 2004 waren ja hundert Jahre vergangen, jetzt sind es 117 Jahre. Bedenken Sie, im Jahr 2015 gab es eine Resolution des Deutschen Bundestags, in der der Völkermord an den Armeniern als solcher benannt und die historische Verantwortung der Türkei eingefordert wurde. Es war natürlich richtig, darauf hinzuweisen. Aber mindestens ebenso wichtig wäre es gewesen, die deutsche Verantwortung für den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts zu benennen, nämlich an den Herero und Nama.

Als die Charité vor zehn Jahren sterbliche Überreste von Herero und Nama, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Trophäen nach Deutschland gebracht worden waren, an Namibia zurückgab, reiste eine namibische Delegation nach Berlin und wurde von keinem deutschen Regierungsvertreter offiziell begrüßt. Wie fanden Sie das?

Ich war zu dieser Zeit noch Bundestagsabgeordnete und empfand die Art, wie die Delegation der Herero und Nama von der Bundesregierung behandelt wurde, als schwer erträglich. Ich glaube, die politisch Verantwortlichen im damaligen Auswärtigen Amt sahen die geschichtliche Bedeutung und die Verantwortung nicht, oder sie wollten sie nicht sehen.

Vertreter von Herero und Nama haben die aktuelle Einigung abgelehnt. Nach einem Bericht der Zeitung "The Namibian" warf das amtierende Oberhaupt der Herero, Vekuii Rukoro, der namibischen Regierung vor, dieser gehe es nicht um Reparationen, sondern um Entwicklungshilfe. Der Vorsitzende der Nama-Vereinigung, Johannes Isaack, sprach von einem Ausverkauf der Interessen von Herero und Nama. "Wir wurden ausgeschlossen", sagte er. War es ein Fehler, die Vertreter der Herero und Nama nicht enger einzubinden?

Die namibische Regierung, auch der namibische Vertreter in den Verhandlungen, Zed Ngavirue, sagen, sie haben das getan. Ich kann das nicht beurteilen und will mich in diese innernamibische Diskussion auch nicht einmischen. Ich freue mich, dass die Bedeutung des neuen Verhaltens der Bundesregierung anerkannt wird, und die Diskussion in Namibia wird zeigen, ob dies erreicht werden kann. Für mich war klar, dass es keine individuellen Entschädigungszahlungen nach diesen langen Jahren geben kann, sondern dass es darum geht, den Regionen, in denen die Nachfahren der Herero und Nama leben, besondere Unterstützung zu geben. Ich denke, das ist auch für die Betroffenen wichtig.

Ich war zwei Mal in Namibia. 2004 und 2013. In beiden Fällen habe ich mit allen Gruppen gesprochen, teilweise über Stunden. Dabei merkt man, dass es auch in Namibia unterschiedliche Positionen gibt. Dennoch ist mir durchgängig die Haltung begegnet, dass für die Menschen die Anerkennung des Völkermordes am wichtigsten ist. 2004 haben mir Herero-Frauen gesagt: "Wir sprechen jeden Tag über dieses Thema." Das ist für uns schwer vorstellbar, aber so ist es. Das ist eine so tiefsitzende, schwere Verletzung, dass die Anerkennung der Verantwortung durch die Bundesregierung mir das Allerwichtigste zu sein scheint.

In Deutschland wird nicht täglich, sondern nur sehr selten über den Völkermord von 1904 gesprochen.

Wenn, was ich hoffe, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier demnächst nach Namibia fährt, wird dieses Thema endlich auch im Bewusstsein der Menschen in Deutschland eine Rolle spielen. Denn es gab ja auch Politiker in Deutschland, die bestritten haben, dass es den deutschen Kolonialismus überhaupt gab. Was ich immer gefordert habe, und von dem ich noch immer hoffe, dass es kommt: Wir brauchen eine parlamentarische Delegation zwischen Deutschland und Namibia, in der auch darüber diskutiert wird, wie die deutsche Hilfe für Namibia aussehen kann. Wir brauchen zudem gemeinsame Geschichtsbücher und mehr internationale Diskussionen an den Universitäten, auch einen Jugendaustausch. Da ist vieles denkbar.

Das bereits erwähnte Herero-Oberhaupt Vekuii Rukoro hat gesagt, dem Völkermord an den Herero und Nama werde deshalb eine geringere Bedeutung zugemessen, weil es sich um Schwarze handele. Könnte da was dran sein?

Ich denke, dass der Völkermord an den Herero und Nama im Bewusstsein in unserem Land verdrängt wurde. Die Verbrechen an den Herero und Nama waren eine Folge rassistischer Abwertung von Menschen, denen das Menschsein abgesprochen wurde. Das ist der Kern des Verbrechens, das darf nicht wieder verdrängt werden. Diese Anerkenntnis ist wichtig für die Nachfahren der Opfer, das sind wir ihnen schuldig. Wir sind es aber auch uns selbst für das historische Bewusstsein in unserem eigenen Land schuldig.

Mit Heidemarie Wieczorek-Zeul sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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