
Ein türkischer Panzer kommt an der Grenze zu Syrien an.
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In der syrischen Region Afrin droht eine humanitäre Katastrophe. Die Türkei bereitet eine Invasion mit Bodentruppen vor. Präsident Erdogan treibt dabei wohl nicht nur die Angst vor Terror, sondern auch Wut. Er fühlt sich verraten – von den USA und Russland.
Kamal Sido lebt in Deutschland, doch er ruft fast jeden Tag in Afrin an, um zu erfahren, ob wieder Granaten eingeschlagen sind. Sido greift nicht nur zum Hörer, weil er Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker ist und in der Region im Nordwesten Syriens verschiedenste Minderheiten leben. Sido stammt selbst aus Afrin. Seine Mutter, seine zwei Brüder und Schwestern leben noch dort. Sido macht sich Sorgen.

Auf Abruf: Soldaten der Freien Syrischen Armee, die mit der Türkei zusammenarbeiten, warten in Syrien auf das Angriffssignal.
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"Recep Tayyip Erdogan sagt ganz offen, dass er ganz Afrin zerstören will", sagt er über den türkischen Präsidenten.
Seit Tagen häufen sich die Berichte, dass türkische Artillerie auf die Provinz feuert. Und wer einen von Erdogans Staatssendern anschaltet, sieht in Dauerschleife, wie Lastwagen Panzer und Geschütze an die syrische Grenze fahren. Auch Bilder von Transportmaschinen voller Soldaten kursieren. Auf den Beschuss aus der Ferne könnte eine Bodenoffensive folgen.
Am Mittwochabend berieten in Ankara Kabinettsmitglieder und Generäle – fünf Stunden lang. "Alle notwendigen Schritte werden eingeleitet, um Bedrohungen aus der Türkei aus West-Syrien im Keim zu ersticken", heißt es im offiziellen Statement, das nach der Sitzung veröffentlicht wurde. Mit der Bedrohung sind kurdische "Terroristen" gemeint. Die Soldaten im Grenzgebiet stellen Medienberichten zufolge auf höchste Alarmbereitschaft um.
Afrin seit Jahren von der Außenwelt abgeschnitten
"Eine Bodenoffensive wäre eine Katastrophe, die Leute würden wieder fliehen, aber wohin?", sagt Sido. Afrin ist seit Jahren fast vollständig von der Außenwelt abgeschlossen. Die Türkei hat ihre Grenzen geschlossen, auf syrischer Seite war die Region von wechselnden Gruppen belagert: mal durch die Freie Syrische Armee, mal durch den selbsternannten Islamischen Staat (IS), mal durch das syrische Regime.
"Der einzige Zugang nach außen führt derzeit über Regime-Gebiet und wird immer wieder durch die syrische Armee oder genauer gesagt die Hisbollah-Miliz blockiert", sagt Sido. "Etwa eine Millionen Menschen, die Hälfte sind Flüchtlinge aus Aleppo und anderen Regionen Syriens, sind betroffen." Sido warnt vor einer humanitären Katastrophe. Schon jetzt könnten die Menschen wegen des Artillerie-Beschusses nicht zu ihrem Ackerland, was in der landwirtschaftlich geprägten Region zu fatalen Ernteausfällen führen dürfte.
Türken fürchten um Glaubwürdigkeit
Drohungen aus Ankara, Afrin zu erobern, ertönen schon seit Monaten. Bisher folgten keine Taten. Das könnte auch dieses Mal so sein, doch das Kriegsgetöse ist so laut, dass sich Türkei- und Syrien-Kenner nicht mehr sicher sind.
"Ich glaube, die Türken fühlen sich sehr in die Defensive getrieben", sagt Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. "In der Regierung gibt es offenbar die Befürchtung: Wenn wir jetzt nichts machen, nimmt uns keiner mehr ernst."
Bei einem genaueren Blick auf das offizielle Statement aus der fünfstündigen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats liegt der Grund dafür nahe. "Es ist bedauerlich, dass ein Staat, der Nato-Mitglied ist und unser Verbündeter in bilateralen Beziehungen, Terroristen zu seinen Partnern erklärt und sie mit Waffen ausstattet, ohne unsere Sicherheitsbedenken zur Kenntnis zu nehmen."
Mit "Terroristen" sind die Mitglieder der syrisch-kurdischen Miliz YPG gemeint, die enge Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK pflegen. Die USA haben im Kampf gegen den IS mit ihnen zusammengearbeitet. Am Sonntag kündigten die Vereinigten Staaten an, mit ihnen eine 30.000 Mann starke Grenzschutztruppe aufzubauen, um die von den Islamisten eroberten Gebiete zu sichern und ein Wiedererstarken der Dschihadisten zu verhindern. "Das hat in der Türkei für große Verärgerung gesorgt", sagt Brakel. "Es widerspricht genau dem, was Präsident Trump vor wenigen Monaten zugesagt hat."
Pentagon bezieht das Weiße Haus kaum mit ein
Die Unterstützung der YPG ist seit jeher ein Zankapfel. Ankara fürchtet, dass die Kurden in Syrien, die sich in den Wirren des Krieges in vielen Landesteilen eine weitgehende Unabhängigkeit erkämpfen konnten, weiter an Gewicht gewinnen. Das könnte ähnliche Bestrebungen bei Kurden in der Türkei auslösen, der größten Minderheit im Lande, so zumindest die Befürchtung Ankaras. Als Donald Trump das Oval Office übernahm, versprach er Erdogan, die Unterstützung einzustellen. Spätestens mit den Plänen, eine Grenzschutztruppe mit syrischer Beteiligung aufzubauen, kann davon kaum noch die Rede sein.
Die Gründe für dieses Hin und Her sind unklar. "Mein Eindruck ist: Die amerikanische Strategie ist hauptsächlich militärischer Natur. Es wird sehr wenig über das Militärische hinaus gedacht. Das ist riskant." Bei seinem jüngsten US-Besuch bekam Brakel den Eindruck, dass das Pentagon das Weiße Haus und das Auswärtige Amt kaum in seine Schritte miteinbezieht.
Brakel vermutet, dass Washington auch darauf spekuliert, irgendwie einen Fuß in die Tür zu kriegen. "Es geht darum, bei den Friedensverhandlungen mit am Tisch zu sitzen und das Nachkriegssyrien mitzugestalten oder zumindest über die Terrorbekämpfung langfristig dort vertreten zu sein. Außerdem möchte man die Bewegungsfähigkeit des IS über die irakische und türkische Grenze einschränken."
Konfrontation mit syrischem Regime nicht ausgeschlossen
Für Frust in Ankara sorgen aber nicht nur die USA. Die Türkei hat in Abstimmung mit dem Iran und Russland Truppen in der syrischen Provinz Idlib stationiert. Sie sollen eine der sogenannten Deeskalationszonen in Syrien überwachen, die dabei helfen sollen, das bürgerkriegsgeschüttelte Land zu befrieden. Seit Ende Dezember greift die syrische Armee Idlib allerdings an, um eine der letzten Hochburgen des Widerstands zu unterwerfen.

Zu viel der netten Gesten? Unter anderem Grünen-Chef Özdemir kritisierte, wie Außenminister Gabriel seinem türkischen Amtskollegen beim Deutschlandbesuch Tee servierte.
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Zwar haben radikale islamistische Gruppen in der Provinz die Oberhand, doch in der Region leben viele Zivilisten. Und auch zwischenstaatlich ist diese Entwicklung gefährlich. "Eine syrisch-türkische Konfrontation ist auf jeden Fall nicht auszuschließen", sagt Brakel. "Es könnte auch zu einem ungeplanten Scharmützel kommen."
Die Türkei protestiert dagegen, dass Moskau seinen Einfluss auf Damaskus bei der Offensive auf Idlib nicht geltend macht. Verärgert ist Ankara zudem, weil auch Russland Beziehungen zu den Kurden in Syrien pflegt. Viel bessere, als es Ankara lieb ist. Der Kreml pocht darauf, dass die YPG an den geplanten Friedensgesprächen in Sotschi Ende des Monats teilnehmen sollen. Ein Affront für Erdogan.
Ob Erdogans Wut groß genug ist, um eine weitere Intervention mit ungewissen Folgen zu beginnen? Die syrische Armee kündigte bereits an, türkische Kampfjets abzuschießen, wenn sie Bomben auf syrischem Boden abwerfen. Und auch die ohnehin schon belasteten Beziehungen zwischen der Türkei, den USA und Russland dürften weiter leiden.
Schmerzvolle Schulterklopfer
Kamal Sido greift nicht nur oft zum Telefon, sondern auch zum Stift. Er schrieb in den vergangenen Tagen Briefe - an die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, und an den früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem ein guter Draht nach Russland und in die Türkei nachgesagt wird.
Über die sich abzeichnende Offensive auf Afrin steht darin: "Bitte tun Sie, was Sie können, damit die Menschen in Afrin bleiben können und nicht in die Flucht getrieben werden. Bitte sorgen Sie dafür, dass Herr Erdogan seinen Krieg gegen Afrin beendet!"
Sehr optimistisch klingt Sido allerdings nicht, wenn man direkt mit ihm spricht. Zwischen Deutschland und der Türkei zeichnet sich nach vielen Monaten zunehmender Eskalation ganz vorsichtig einmal wieder diplomatische Entspannung ab. Ankara hat einige inhaftierte deutsche Journalisten und Menschenrechtler freigelassen. Und Berlin versucht mit kleinen Gesten zu signalisieren, dass es sich lohnt, wieder aufeinander zuzugehen. Auch, weil der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel und andere Deutsche weiterhin in der Türkei in Haft sitzen.
"Die Haltung der Bundesregierung ärgert mich sehr", sagt Sido. "Ausgerechnet in dieser Situation empfängt unser Außenminister seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu." Die beiden Politiker machten Anfang des Monats einen Spaziergang durch Gabriels Heimatstadt Goslar. Sie dutzten sich demonstrativ, klopften sich auf die Schultern. Cavusoglu nannte den SPD-Politiker wiederholt "Freund". Und während in den vergangenen Tagen Granaten auf Afrin fielen, nahm die Bundesregierung die deutsch-türkische Regierungskonsultationen wieder auf, die im vergangenen Jahr ausgesetzt wurden.
Quelle: ntv.de