Frontex-Vizechef im Interview"Show sind diese Kontrollen ganz sicher nicht"

Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex soll in den nächsten Jahren stark ausgebaut werden. Ihr Vizechef Lars Gerdes spricht im Interview mit ntv.de über Rückführungen, Waffenschmuggel und Pushbacks.
Die Kontrollen an den deutschen Grenzen "sind effektiv und haben dazu beigetragen, dass weniger Migranten nach Deutschland gekommen sind", sagt Frontex-Vizechef Lars Gerdes. Seine Agentur unterstützt die Staaten an der Außengrenze der Europäischen Union. Den Zaun an der Grenze zu Belarus schützt Polen trotzdem lieber allein.
ntv.de: Frontex soll bis 2027 auf 10.000 Einsatzkräfte anwachsen, perspektivisch sogar auf 30.000. Wie viele Grenzbeamte hat das sogenannte Standing Corps?
Lars Gerdes: Stand heute haben wir etwas über 3500 Kräfte im Einsatz, rund um die Uhr. Dazu kommen etwa 1000 Beschäftigte im Hauptquartier in Warschau. Die gültige EU-Verordnung von 2019 legt einen Aufbau auf 10.000 fest. Allerdings sind ein Teil dieser 10.000 Grenzbeamten sogenannte Kurzzeitverwender. Voraussichtlich werden wir dann 7000 Grenzbeamte ständig im Einsatz haben.
In der EU sind die Nationalstaaten für den Schutz der Außengrenzen zuständig. Was ist die Aufgabe von Frontex? Aushelfen, wo ein EU-Staat Unterstützung braucht?
Ja, wo Mitgliedstaaten die Unterstützung anfordern, weil wir benötigt werden, und wo wir im Rahmen unserer eigenen Analysen festgestellt haben, dass das notwendig ist. Verantwortlich für unseren Einsatz ist immer der "Host State", also der Einsatzstaat, bei dem auch die Leitung des jeweiligen Einsatzes liegt. Das kann man sich ungefähr so vorstellen wie das Verhältnis von Bereitschaftspolizei und einsatzführender Polizeibehörde, nur dass wir noch stärker in die Strukturen des Host State integriert sind.
Polen beklagt sich immer wieder über mangelhafte Unterstützung beim Grenzschutz, hat Frontex aber noch nie um Hilfe gebeten - obwohl die Agentur ihren Sitz in Warschau hat.
Das stimmt so nicht, wir unterstützen Polen an einigen Grenzübergangsstellen an der Ostgrenze und haben eine gemeinsame Operation mit Polen und anderen Anrainerstaaten in der Ostsee. Allerdings sind wir nicht, und das meinen Sie wahrscheinlich, an der grünen Grenze zu Belarus im Einsatz.
Warum nicht?
Für Polen ist das eher eine militärische als eine polizeiliche Situation. Wir sind aber eine grenzpolizeiliche Organisation, keine militärische. Polen zieht es deshalb vor, in diesem Einsatz eigene Kräfte aus Polizei und Militär zu nutzen.
Ist das aus Ihrer Sicht richtig so?
Es ist nicht meine Aufgabe, Einsätze von Nationalstaaten zu kommentieren.
Polen setzt auf einen Zaun, um die Grenze zu Belarus dicht zu machen. Funktioniert das?
Die kurze Antwort wäre: Ja, aber. Natürlich funktioniert das, denn so können Ströme von Menschen koordiniert und geleitet werden. Aber ein Zaun allein bringt gar nichts. Sperren müssen immer auch überwacht werden - durch Kameras, Infrarottechnik und Einsatzkräfte. Der Zaun verlängert die Reaktionszeit, die Einsatzkräfte zur Verfügung haben, um an einen Ort zu kommen. Im Zusammenspiel ist das sehr effektiv.
In Deutschland geht die Zahl der Asylanträge zurück. Liegt das auch an den Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen oder sind die vor allem Show?
Show sind diese Kontrollen ganz sicher nicht. Die Kontrollen sind effektiv und haben dazu beigetragen, dass weniger Migranten nach Deutschland gekommen sind. Aber unser Ziel ist, die Außengrenzen so zu stärken, dass Kontrollen an den Binnengrenzen nicht mehr notwendig sind.
Welche Fluchtrouten machen Ihnen derzeit am meisten Sorgen?
Man kann die unterschiedlichen Fluchtrouten und Grenzen nicht vergleichen. Im zentralen Mittelmeer macht uns besondere Sorge, dass dort viele Menschen ertrinken. Es ist eine sehr lange Überfahrt und die Boote sind meist seeuntüchtig. In den allermeisten Fällen werden die Migranten dort von den Schleusern misshandelt. In den Interviews, die wir nach der Einreise mit den Migranten auf freiwilliger Basis machen, hören wir schreckliche Geschichten. In vielen Fällen werden die Menschen auf engstem Raum eingepfercht, Menschen werden beraubt, missbraucht, vergewaltigt. Es gibt Fälle, wo Schleuser die Familien der Migranten erpressen.
An der osteuropäischen Grenze ist die Situation eine ganz andere. Dort sorgen wir uns um illegalen Schmuggel einschließlich möglichen Waffenhandels aus der Ukraine.
Waffenhandel aus der Ukraine heraus?
Das bezieht sich auf die Zeit, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind. In der Ukraine gibt es eine große Menge an Kriegswaffen und Munition. Wir gehen davon aus, dass ein Teil davon sehr schnell in kriminelle Kanäle gerät und geschmuggelt wird, wenn diese Waffen nicht mehr benötigt werden - an Kriminelle oder im schlimmsten Fall an Terroristen in EU-Staaten. Nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien haben wir entsprechende Erfahrungen gemacht, nur sprechen wir jetzt von einer ganz anderen Qualität und Quantität. Darauf sind wir vorbereitet. Bereits jetzt bilden wir die Kollegen von Frontex, der Mitgliedstaaten und sogar in der Ukraine gezielt aus.
Gibt es einen solchen Waffenschmuggel denn schon?
Zunächst sind wir davon ausgegangen, dass eine solche Gefahr unmittelbar droht. Da lagen wir falsch. Im Vergleich zur Vorkriegszeit hat es keinen signifikanten Anstieg an Waffenschmuggel aus der Ukraine gegeben. Aber wir gehen davon aus, dass sich das schnell ändern kann.
Sie haben die vielen Todesfälle im Mittelmeer angesprochen. Seit Jahren gibt es keine staatlich organisierten Seenotrettungsmissionen mehr, privaten Seenotrettern wird die Hilfe von Italien erschwert.
Das Mittelmeer hat eine unglaublich große Ausdehnung. Egal, wie viele Schiffe wir dorthin schicken, eine sichere Überfahrt werden wir niemals gewährleisten können. Deshalb müssen wir aufpassen, keine falschen Hoffnungen zu erzeugen. Es würde weiterhin viele Tote geben, auch mit einer verstärkten Seenotrettung. Wir würden eher Anreize schaffen und Wünsche erzeugen für eine sichere Überfahrt, die es nicht gibt.
Im kommenden Jahr tritt GEAS in Kraft, das Gemeinsame Europäische Asylsystem, das unter anderem Asylverfahren an den Außengrenzen vorsieht. Dafür soll es auch geschlossene Einrichtungen geben, die die Asylbewerber nicht verlassen dürfen. Werden die nicht trotzdem weiterhin versuchen, direkt in Länder wie Deutschland zu kommen?
Ich denke schon, dass die Grenzverfahren funktionieren werden. Im europäischen Migrationspaket ist das ja auch so vorgesehen: Wenn das Risiko besteht, dass eine Person im Grenzverfahren in ein anderes Land weitergeht, dann kann sie daran gehindert werden. Wenn festgestellt wird, dass die Person schutzbedürftig ist, dann darf sie einreisen; eine nicht schutzbedürftige Person muss rückgeführt werden. In diesen Fällen wird die Rückführung häufig durch Frontex erfolgen. Der Vorteil der Verfahren an den Außengrenzen wäre, dass wir die rückzuführenden Personen dann auch vorfinden, weil sie sich vor Ort befinden.
Die Bundesregierung will die Zahlen der Rückführungen erhöhen. Der Migrationsrechtler Daniel Thym sagt, mehr als 7000 Abschiebungen nach Syrien seien im nächsten Jahr nicht realistisch. Ist das so?
Europaweit haben wir in diesem Jahr mehr als 50.000 Rückführungen durchgeführt, allein aus Deutschland waren es 25.000, davon 16.000 mit unserer Unterstützung. Die Zahl der Rückführungen hängt ganz entscheidend davon ab, dass eine rechtsverbindliche Rückführungsentscheidung vorliegt. Hier stehen mit Blick auf Syrien noch politische Entscheidungen an, sodass ich sagen würde, für eine solche Berechnung ist es derzeit zu früh.
Im vergangenen Jahr gab es neue Vorwürfe gegen Frontex, bei illegalen Pushbacks der griechischen Küstenwache anwesend gewesen zu sein. Hat Frontex daraus Konsequenzen gezogen?
Es gibt keinen nachgewiesenen Fall, wo Kräfte aus dem Frontex Standing Corps an Pushbacks oder anderen illegalen Maßnahmen beteiligt waren. Die Vorfälle der Vergangenheit, die schon lange zurückliegen, haben dazu geführt, dass die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission Änderungen in der Agentur umgesetzt haben.
2022 wurde bei Frontex die Führung ausgetauscht.
Es gab weitere Maßnahmen. Allerdings musste Frontex sich nicht komplett neu erfinden. Wir hatten schon immer einen Menschenrechtsbeauftragten. Das Büro wurde dann noch verstärkt. Auch vorher gab es das Konsultationsforum, in dem wir uns mit Organisationen und auch NGOs unterhalten und von ihnen beraten lassen. Das ist intensiviert worden. Und obwohl es keinen Fall gab, wo Frontex mit eigenen Kräften an Menschenrechtsverletzungen beteiligt war, sind die Leute verstärkt sensibilisiert. Ich bin überzeugt: Jegliches Verhalten, was nicht den Menschenrechten entspricht, würde sofort gemeldet. Diese Sensibilisierung führt sogar dazu, dass mir viel gemeldet wird, was sich anschließend als unproblematisch herausstellt.
Zum Beispiel?
Wenn jemand gefesselt wird, dann mag das für einen Außenstehenden schlimm aussehen. Es gibt aber Polizeigesetze, die das in bestimmten Situationen erlauben, etwa bei Widerstand. Auch wenn sich das als unproblematisch herausstellt, ist ein solcher Vorfall, wenn er gemeldet wurde, in unserer Statistik ein "serious incident". Ich denke, wir sollten uns auf Fälle tatsächlicher Menschenrechtsverletzungen konzentrieren. Aber auch das sind absolute Ausnahmefälle. Denn zur Identität eines europäischen Polizeibeamten gehört, dass wir die Menschenrechte schützen. Dieses Selbstverständnis sehe ich im Grundsatz in allen europäischen Mitgliedstaaten genauso wie in Deutschland.
In allen EU-Staaten? Frontex-Chef Hans Leijtens sagte dem "Spiegel" vor ein paar Monaten, ihn würden "noch immer Berichte über Unregelmäßigkeiten in einigen Mitgliedstaaten" erreichen.
Ja, es gibt solche Berichte. Griechenland steht unter einem enormen Migrationsdruck, die Einsatzkräfte sind dort nicht selten überlastet. Wir versuchen, so gut wie möglich zu unterstützen.
Frontex hätte die Möglichkeit, sich aus den Operationen mit Griechenland zurückzuziehen.
Was wäre dann gewonnen? Nehmen wir an, da wäre wirklich etwas vorgefallen. Was ändert sich, wenn wir nicht mehr vor Ort sind? Dadurch wird es ja nicht besser. Besser wird es nur, wenn wir dort sind, wenn wir beobachten, mit gutem Beispiel vorangehen und gemeinsam mit den Kollegen die Lagen lösen.
Mit Lars Gerdes sprach Hubertus Volmer