Panorama

Migrantenfriedhof auf Lampedusa "Zumindest ein Kreuz braucht jeder Tote"

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Bis zu 90 Migranten liegen auf dem Friedhofsareal begraben.

Bis zu 90 Migranten liegen auf dem Friedhofsareal begraben.

(Foto: A. Affaticati)

Tausende Migranten ertrinken jedes Jahr im Mittelmeer. Auf dem Friedhof der sizilianischen Insel Lampedusa sind einige begraben. Die Federn, Kreuze und der Stacheldraht auf den Gräbern sind mahnender als Worte.

Yusuf war wenige Monate alt, als er mit seiner Mutter auf der sizilianischen Insel Lampedusa strandete. Endlich Europa, endlich in Sicherheit, wird seine Mutter, keine 18 Jahre, vielleicht gedacht haben. Doch dann entglitt ihr der Kleine aus den Armen und ertrank.

Yusuf liegt auf dem Friedhof im neueren Teil der Insel. Eine kleine Grünfläche, auf der auch andere Migranten begraben sind. Auf der kleinen Marmorplatte steht, handgeschrieben und eingerahmt von der Zeichnung eines blauen Boots auf dem Meer: Yusuf Ali Kanneh 26.04.2020 Libia - 11.11.2020 Lampedusa. Darüber ein großer Regenbogen. Yusufs Grabstätte ist eine der wenigen, die mit einem Namen versehen ist. Die meisten anderen um ihn herum haben nur ein Kreuz und das Datum der Bergung. Hinzu kommen Wandmalereien: weitere Regenbogen oder herumschwirrende kleine Fische und Federn.

Lombardo ist heute in Rente.

Lombardo ist heute in Rente.

(Foto: A. Affaticati)

Vincenzo Lombardo, heute in Rente, ist der ehemalige Friedhofswächter. Er war es, der die erste Leiche eines Migranten bestattete. "Das war 1996", erzählt er beim Treffen mit ntv.de. "Auf dem Dokument, das er mit sich trug, stand Ali Mustafa."

33.000 Tote in 10 Jahren

Lombardo schätzt, dass heute an die 85-90 Migranten auf Lampedusa begraben sind. Das Kreuz, das viele haben, hat er ihnen aufgestellt. Natürlich weiß er, dass es sich zum Großteil um Muslime handelt, "aber zumindest ein Kreuz muss jeder haben", findet er.

Laut Missing Migrants, ein Projekt der Internationalen Organisation für Migranten (IOM), sind zwischen 2014 und 2025 an die 33.000 Menschen im Mittelmeer gestorben. Allein seit Jahresbeginn 2025 waren es demnach 961. Papst Franziskus hatte das Mittelmeer mehrmals einen "immensen Friedhof" genannt. Und da ihn das Schicksal der Migranten zutiefst berührte, führte ihn seine erste Papstreise nach Lampedusa. Das war am 8. Juni 2013.

Eine Feder schmückt diesen Grabstein.

Eine Feder schmückt diesen Grabstein.

(Foto: A. Affaticati)

Drei Monate später, am 3. Oktober, kam es zu einem der tragischsten Bootsunglücke dieser Zeit. 368 Migranten ertranken vor Lampedusas Küste. Der 3. Oktober wurde in Italien zum Gedenktag an die verstorbenen Migranten, nicht nur der vor Lampedusa. Trotzdem finden die wichtigsten Veranstaltungen auf der Insel statt. Neben den Einwohnern und den Angehörigen lassen sich auch Politiker und Vertreter der Institutionen blicken.

Damals hatte Rom die Mission Mare Nostrum ins Leben gerufen, um die Migranten in Seenot zu retten. Einige Jahre später wurde sie eingestellt. An ihrer Stelle kam Frontex. Eine europäische Organisation, die vor allem als Grenzpolizei agiert. Und dann sind da noch die NGOs, die von der jetzigen italienischen Regierung besonders drangsaliert werden. Italien ist jedoch nicht das einzige Land, dass immer schärfere Maßnahmen gegen zivile Seenotrettung trifft. Auch der Bund gibt den NGOs für ihre Einsätze kein Geld mehr.

Gedenktage werden zu Ego-Trips

Anna Sardone ist Lehrerin für Italienisch und Geschichte. Außerdem hat sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten das "Historische Archiv" von Lampedusa gegründet. Wer sich seiner Wurzeln bewusst ist, sagt sie, öffnet sich auch seinem Gegenüber. Von Gedenktagen hält sie wenig. "Ich war am besagten 3. Oktober hier. Es war ein großer Schock für uns alle. Die LKWs, die normalerweise Fisch transportierten, fuhren jetzt die Särge weg."

Gedenktage seien vornehmlich Ego-Trips, meint Sardone, bei denen die Migranten leider eher selten im Vordergrund stünden. Sie meint damit ihre Rechte, Erwartungen, Wünsche und die Frage, was man selber machen könnte. Eine Kritik, die man eins zu eins auf den 18. Dezember übertragen kann, dem Internationalen Tag der Migranten.

Seit 2015, als die große Migrationswelle über Europa schwappte und Bundeskanzlerin Angela Merkel "Wir schaffen das" sagte, hat sich Europa immer mehr abgeschottet, seine Grenzen dichtgemacht. Nächstes Jahr tritt EU-weit ein strengeres Asylgesetz in Kraft. Außerdem ziehen immer mehr Staaten in Erwägung, Auffanglager in Drittstaaten zu errichten. Wie zum Beispiel Italien, in Albanien. Platz wäre für 880 Migranten, doch die italienische Justiz stoppe die Pläne mehrfach. Das Lager steht weitgehend leer.

An einem der Enden der via Roma, dem zentralen Corso von Lampedusa, liegt ein Aussichtspunkt, der perfekt ist für ein Selfie. Wenn man auf den Bildausschnitt achtet, hat man im Hintergrund nicht nur den Hafen mit den malerischen Fischkuttern und Segelschiffen, sondern etwas weiter weg auch die Porta d'Europa, das Tor zu Europa. Vom Künstler Mimmo Paladino kreiert, ist es zu einem der Wahrzeichen der Insel geworden. Ein Europa, das die Migranten aber schon lange nicht mehr willkommen heißt.

Schicksale auf Grabsteinen

Auch auf dem alten Friedhof, der an den neuen Friedhof grenzt, stößt man immer wieder auf Einzelgräber von Migranten, die im Meer ertrunken sind. Nicht selten haben sich ihre Körper in den Netzen der Fischer verfangen, die sie dann auf die Insel brachten.

Das Tor nach Europa.

Das Tor nach Europa.

(Foto: A. Affaticati)

Da ist zum Beispiel das Grab von Ester Ada, am 11. Mai 1991 in Nigeria geboren und am 16. April 2009 vor Lampedusa gestorben. Auch dieser Grabstein ist bemalt. Man sieht das Antlitz einer afrikanischen Frau, einen Stacheldraht zwischen den Wellen und eine Feder. Außerdem erzählt der mit Pinselstrichen geschriebene Text, dass das türkische Handelsschiff PINAR einem in Seenot geratenen Kutter zur Hilfe geeilt war. An Bord gebracht wurde auch der Leichnam dieser jungen Frau, neben 156 überlebenden Migranten. Daraufhin stritten sich Malta und Italien drei Tage lang darüber, wer die Menschen aufnehmen sollte. Am Ende war es Italien.

"Die Feder steht für die Seele"

Was es mit den Federn und dem Stacheldraht auf sich hat, erklärt Francesca Saccomanni von Mediterranean Hope, einer NGO der Föderation der evangelischen Kirchen. "Sie haben einen sehr wichtigen symbolischen Wert. Der Stacheldraht weist darauf hin, dass es nicht das Meer war, das ihnen das Leben geraubt hat, sondern es die verriegelten Grenzen waren. Die Feder steht wiederum für die Seele, die sich von allen Zügeln befreit hat."

Aber noch einmal zurück zum kleinen Yusuf. "Während der Bestattungszeremonie hatte eine Lampedusanerin die verzweifelte Mutter umarmt und ihr einen gehäkelten Schal um die Schultern gelegt" erzählt Sardone. "Diese mitfühlende und ergreifende Geste war Anlass zum Projekt 'Yusufs Decke'." Eine Decke aus farbigen gehäkelten Quadraten, an der jeder mithäkeln kann.

Mittlerweile ist die Decke über Hundert Quadratmeter groß. Im Herbst wird sie verwendet, um mit Kindern im Freien zu lesen. Am Anfang sitzen alle noch auf der Decke. Nach und nach aber kuscheln sich immer mehr Kinder darunter, zum Schutz gegen die Kälte.

Quelle: ntv.de

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